Überlebensübungen - Erzählung
konfrontiert gewesen sein. Zwei Jahrzehnte: Jahre der Bildung, der Reifung (Bildungsjahre nach dem treffenden deutschen Ausdruck) mit der mehr oder weniger fernen, manchmal unmittelbaren Wahr
scheinlichkeit einer Verhaftung – folglich der Folter. Zwei Jahrzehnte, in denen ich außerhalb des Gesetzes lebte, zumindest an dessen Rand, mit falschen Papieren.
Gewiss, wäre ich im zweiten Jahrzehnt dieses illegalen Lebens auf einem Pariser Flughafen verhaftet worden, bei der Rückkehr von einer Reise in ein Land des Ostens (normalerweise bei der Rückkehr aus Prag, da diese Stadt während all dieser Jahre die logistische Basis der PCE hinter dem Eisernen Vorhang gewesen ist, was in doppelter Hinsicht ein Glück war: erstens, weil Prag eine wunderschöne Stadt war, die ich unermüdlich bis in ihre geheimsten Winkel durchstreifte; und zweitens, weil die oft kurzen, aber ab 1954 häufigen Aufenthalte in Prag dazu beitrugen, meine Sicht der Welt zu bereichern, indem sie sie nuancierten, dem selbstgefälligen, bornierten Optimismus des kommunistischen Dogmas widersprachen; denn Prag bot mir, wenn ich von Madrid oder Paris kam, hinter seiner nostalgischen und pathetischen Schönheit das eintönig graue Bild des real existierenden Sozialismus: die graue Eintönigkeit der Kleidung, der Schaufenster, der Gesichter, der Stimmungen, der offiziellen Rede. Es gab Gründe, sich Fragen zu stellen. Doch wenn ich auf der Rückreise aus Moskau hier eintraf, bot mir Prag im Gegenteil die wenn auch dahinschwindende Vielfalt, den wenn auch erloschenen Glanz des europäischen Westens; wenn ich aus Moskau in Prag eintraf, hatte ich den Eindruck, heimzukommen, was, wie man ahnen kann, nicht bedeutungslos war), wäre ich also, aus Prag kommend, auf einem Pariser Flughafen von einem französischen Polizisten verhaftet worden, der irgendetwas Anor
males an meinen falschen Papieren festgestellt hätte – eine wenig wahrscheinliche Hypothese, aber man konnte sie nicht völlig ausschließen –, dann wären die Folgen zwar ärgerlich, aber nicht dramatisch gewesen.
Desgleichen wenn ich zum Beispiel in Behobia verhaftet worden wäre, auf der französischen Seite, beim Passieren der spanischen Grenze in die eine oder andere Richtung.
Wie dem auch sei, zu Beginn dieser Jahrzehnte außerhalb des Gesetzes hatte ich in der Euphorie der Jugend, der Lehrjahre die Neigung, dieses illegale Leben als eine Art Privileg zu betrachten, als ein Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Art Ritterschaft, als eine glückliche, ziemlich belebende Besonderheit, die mich vom gewöhnlichen Sterblichen radikal unterschied. Ich empfand nicht das Bedürfnis, diese Besonderheit zu verkünden, in meinem Verhältnis zu anderen irgendeinen Vorteil oder Nutzen daraus zu ziehen. Ich genoss sie im Stillen, sie genügte sich selbst. Es war ein offenkundiger, aber uneingestandener, nicht einzugestehender Reichtum, etwas Unausgesprochenes, das meine Illusionen nährte, meine Überzeugungen, meine Träume.
Und dann, in dem Maße, wie die Zeit verging, gewöhnte ich mich an diesen Status, an diese Lebensweise, in der das Risiko, das Unvorhergesehene, die Gefahr nicht nur alltäglich, sondern auch gewissermaßen Berufsroutine wurden; in dem Maße auch – unmöglich, dem nicht Rechnung zu tragen –, in dem die lyrische Illusion verging, in dem die einzige Gewissheit, lebendig, fruchtbar zu bleiben, die Gewissheit der Notwendigkeit, der Richtigkeit
und der Gerechtigkeit des Kampfs gegen die faschistische Diktatur war, auch wenn er nicht zu einer revolutionären Parusie führte; in dem Maße, wie der schöne Satz von Ernest Renan, es kann ja sein, dass die Wahrheit traurig ist , in meinem Geist ein schärferes Profil gewann, vor allem ab 1956 und dem XX . Parteitag der KPdSU ; in dem Maße vielleicht, in dem ich einfach nur älter wurde, hörte ich auf, die Besonderheit meines Lebens als eine Art Privileg zu betrachten, gleichsam mit dem Nimbus charismatischer Salbung versehen.
Denn alles hat ein Ende, sogar der verständliche, zweifellos maßlose Stolz auf ein Doppelleben voll akzeptierter Risiken, Entdeckungen und Begegnungen. Alles im Leben hat ein Ende, sogar die Gründe, zu leben. Aber weshalb sollte man nicht ohne Gründe leben? Ich meine außer einem anderen Grund als dem, zu leben, mit all seinen Konsequenzen. Ein neues Leben, ebendies erwartete mich ohne andere Gründe zu leben als denen des Lebens selbst; ohne besonderes Risiko außer dem des Todes selbst, ein in der Leere
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