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Überlebensübungen - Erzählung

Überlebensübungen - Erzählung

Titel: Überlebensübungen - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Lutetia, sechzig Jahre später, habe ich mich an Yves Darriet erinnert.
     
    Einige Wochen vor meiner Entdeckung der Plakate zum Gedenken an die Rückkehr der Deportierten im Jahr 1945 hatte ich einen Brief erhalten.
    Er war auf den 18. Mai 2005 datiert, hatte jedoch lange gebraucht, bis er mich erreichte. Oder vielmehr ich hatte lange gebraucht, bis ich ihn entdeckte, denn er war, ich weiß nicht warum, an die Adresse eines Hauses geschickt worden, das ich in der Nähe von Nemours, im Gâtinais, besitze und in dem ich lange Zeit nicht mehr gewesen war.
    Wie dem auch sei, dieser Brief erwartete mich in Garentreville.
    Noch bevor ich den Namen und die Adresse meines Korrespondenten entzifferte und den in deutscher Sprache auf der Maschine geschriebenen Text zu lesen begann, ist mir die Qualität des Papiers aufgefallen. Ich meine seine schlechte Qualität, die seltsame Konsistenz des gelblichen, töricht glänzenden Papiers, wie es für die Produktion der ehemaligen Ostblockregimes typisch war.
    Deshalb habe ich, noch bevor ich wusste, worum es in diesem Schreiben ging, geahnt, dass es aus einer ehemaligen »Volksrepublik« kam.
    Tatsächlich war der Brief in Olomouc, in der tschechischen Republik, aufgegeben worden.
    Ich dachte noch, dass das nicht sehr ermutigend sei. So wenig Fortschritt in fünfzehn Jahren, zumindest was die Herstellung eines ordentlichen Briefpapiers anging, wirklich nicht ermutigend!
    Der Autor dieses Briefs hieß Miroslav Hajtmar. Er nannte seine Adresse – Karolíny Světlé 6, Olomouc 779 00 – und präzisierte in Klammern, dass er ein »ehemaliger Häftling im KZ Buchenwald, Nummer 42768« war.
    Als ich diese Kennziffer sah, konnte ich schließen, dass Hajtmar wahrscheinlich im zweiten Halbjahr 1943 im Lager angekommen war. Einige Wochen vor mir, vermutlich. Meine Erfahrung in der Zentralkartei des Lagers erlaubte mir diese Hypothese.
    Aber dieser Name, diese Kennziffer sagten mir nichts, erinnerten mich an nichts. Hajtmar gehörte nicht zur Gruppe der tschechischen Kumpels, an die ich mich erinnern konnte.
    Doch das Interessanteste, für mich zumindest, war, dass er Musiker in der Jazzband gewesen war, die Jiří Zak in Buchenwald gegründet hatte. »Was mich betrifft, ich habe in dieser Big Band Saxophon und Klarinette gespielt«, schrieb er. Aber er lässt sich nicht über diese musikalische Tätigkeit aus – die doppelt illegal war, da die Jazzband ohne Wissen der SS -Leute, die diese »entartete« Musik hassten, wie der deutschen kommunistischen Veteranen üben musste, die diese Musik »imperialistischer Dekadenz« verabscheuten –, er äußert sich dazu nicht, weil er weiß, dass ich lange darüber gesprochen habe.
    Er sei, so schrieb er, »ein fleißiger Leser Ihrer schriftstel
lerischen Arbeiten« gewesen, » L'écriture ou la vie und Der Tote mit meinem Namen« …
    Sollte er das erste der genannten Bücher auf Französisch gelesen haben? Hajtmar nennt den französischen Titel. Was das zweite betrifft, so nennt er den Titel der deutschen Übersetzung von Le mort qu'il faut.
    Natürlich ist das nicht das Wesentliche.
    Das Wesentliche ist, dass Miroslav Hajtmar, ein tschechischer Häftling, Klarinettist und Saxophonist im Orchester von Jiří Zak, mir in seinem Brief ein außergewöhnliches Dokument schickt: eine Fotokopie des Konzertprogramms, das diese Gruppe nach der Befreiung von Buchenwald durch die 3. US -Armee von Patton öffentlich gegeben hatte.
    Genau am 19. April 1945.
    Am Ende des genannten Programms, das in Englisch abgefasst war – zweifellos für die amerikanischen Soldaten gedacht –, kann man lesen: Leader of the Band: Ives Darriet, France.
    Voilà: schon lange war Darriet in meinem Gedächtnis, in meinem Leben nicht mehr erschienen. Aber es trifft sich gut, er kommt zur rechten Zeit. Auch er drängt mich, diese Arbeit des Schreibens zu beginnen.
    Vielmehr des nochmaligen Schreibens.
     
    An dem Tag, an dem ich den Brief von Miroslav Hajtmar gefunden habe, war schönes Wetter. Der Garten von Garentreville stand in Blüte. In dem grasbewachsenen Raum zwischen den beiden L-förmigen Flügeln des Hauses stand man wie in einem Gedicht von José-Maria
de Heredia »im Schatten des blühenden Gewölbes der Trompetenbäume …«
    Als ich den Umschlag öffnete, um ihm den Text zu entnehmen, der mit der Maschine auf dem seltsamen Papier, eine Erinnerung an den »real existierenden Sozialismus«, geschrieben war, entglitt ihm ein weiteres Blatt: die Fotokopie des

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