Überlebensübungen - Erzählung
seiner ontologischen Evidenz so banales, so universelles Risiko, dass es keine Erfahrung eines besonderen Lebens außerhalb der Norm begründen konnte.
An all dies dachte ich, als ich nach meinem letzten illegalen Aufenthalt Madrid verließ.
II
Rückkehr ins Lutetia
Die Bar des Lutetia lag noch immer im Halbdunkel, war aber weniger günstig: sie hatte sich nach und nach gefüllt.
Bald war es an der Zeit, ans Weggehen zu denken.
Warum war ich eigentlich hergekommen?
Ich komme oft an diesem Hotel vorbei. Meine üblichen Wege in Paris bringen es mit sich, dass ich oft die Kreuzung überquere, an der es steht: Spazier- oder Arbeitswege, zu Fuß oder im Auto. Doch an jenem Tag, heute, in diesem Juli 2005, hatten mich einige ungewöhnliche Plakate aufmerken lassen, die sich an den Straßenlaternen aneinanderreihten, an der Kreuzung Boulevard Raspail und Rue de Sèvres.
Als ich mich einem dieser Plakate näherte, konnte ich feststellen, dass hier kurze historische Texte und zahlreiche Fotografien an den Jahrestag der Rückkehr der Überlebenden aus den Nazi-Lagern erinnerten.
Denn im Juli 1945, vor sechzig Jahren, war das Lutetia in eine zentrale Auffangstelle für diese Wiedergänger umgewandelt worden.
Ich habe einige der Texte gelesen, lange die Fotos betrachtet. Ich hatte ein etwas beunruhigendes Gefühl. Auch wenn ich genau wusste, mit unumstößlichem Wissen ohne irgendeine Art von Unsicherheit, dass ich 1945 nicht
über die Aufnahmestelle des Lutetia aus Buchenwald zurückgekehrt war, schienen einige dieser Bilder persönliche Erinnerungen wachzurufen. Ich hatte den Eindruck, bei den Szenen dabei gewesen zu sein, die die ausgestellten Fotos zeigten. Den Eindruck, Gesichter wiederzuerkennen, die darauf zu sehen waren.
Aber ich bin nicht über das Lutetia aus Buchenwald zurückgekehrt, das wusste ich genau.
Eines Tages Ende April in jenem fernen Jahr ist Yves Darriet plötzlich aufgetaucht, außer Atem.
»Was treibst du hier?«, schrie er. »Ich suche dich überall!«
Yves war mein ältester französischer Kumpel in Buchenwald. Wir waren zur selben Zeit aus Compiègne angekommen, vielleicht mit demselben Transport. Jedenfalls haben wir uns im selben Quarantäneblock 62 wiedergefunden und kennengelernt.
Er kam außer Atem angerannt.
Ich aber saß im Frühlingsgras in dem Wäldchen, das die Baracken des Reviers, des Lager-Krankenbaus, umgab. Ich betrachtete die Thüringer Ebene, draußen, jenseits des Stacheldrahts und der Wachtürme, die von der SS seit der Ankunft der amerikanischen Soldaten am 11. April aufgegeben worden waren.
In der Sonne sitzend, betrachtete ich die Thüringer Ebene, das nahe gelegene Dorf Hottelstedt, den häuslichen Rauch.
»Gar nichts«, sage ich, »ich schaue!«
Er macht dasselbe, sichtlich überrascht, er betrachtet die Landschaft.
»Nach was schaust du denn? Es gibt nichts zu sehen!«
Ich belehrte ihn eines Besseren.
»O doch! Das Draußen ist zu sehen! Wir sind immer noch drinnen, und dort ist das Draußen!«
Er wurde unruhig.
»Genau: das Draußen! Da gehen wir hin, Gérard … Wir können sofort nach Paris zurück … Bist du bereit?«
Ich bin aufgesprungen. Natürlich war ich bereit!
Er zieht mich mit sich, erklärt es mir.
Eine französische Repatriierungsmission, die von Abbé Rodhain, war in Buchenwald eingetroffen: eine katholische Hilfsorganisation. Einer ihrer Lastwagen fuhr nach Paris, ja, sofort. Er hatte mir in diesem Gefährt einen Platz reserviert, an seiner Seite. Seit einer Stunde suchte er mich, hatte mich durch Zufall gefunden.
So war es, wir fuhren sofort los, zusammen.
Aber wir sind nicht über das Lutetia zurückgekommen.
In unserm Fall hatten die Formalitäten der Identifizierung im Repatriierungslager von Longuyon stattgefunden, kurz nach Passieren der Grenze zwischen Luxemburg und Frankreich. Dann hatte uns der Lastwagen der Rodhain-Mission in Paris, Rue de Vaugirard, abgesetzt, wo jeder von uns in sein trautes Heim zurückgekehrt war.
Nun, in meinem Fall war das »traute Heim« eine Redensart; unnötig, darauf zurückzukommen.
Doch in den folgenden Wochen war ich manchmal ins Lutetia gegangen, um mich nach meinen spanischen Kumpels aus Buchenwald zu erkundigen, die noch nicht wieder aufgetaucht waren. Einmal habe ich Yves Darriet wie
dergesehen, der irgendjemanden suchte. Wir haben zusammen ein Bier getrunken, wir haben uns versprochen, uns wiederzusehen.
Wir haben dieses Versprechen übrigens gehalten.
In der Bar des
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