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Überlebensübungen - Erzählung

Überlebensübungen - Erzählung

Titel: Überlebensübungen - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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auf Matrizen vervielfältigten Programms des ersten Konzerts, RHYTHMUS lautete der Titel, und dieses in Großbuchstaben gedruckte Wort umgaben Zeichnungen von Musikinstrumenten. Die Kopfzeile war in drei Sprachen abgefasst: in Tschechisch, Englisch und Französisch.
    »Concert de jazz dans le libre Buchenwald« – Jazzkonzert im freien Buchenwald –, lautete die französische Version.
    Es folgte die Reihenfolge der vom Orchester bei dieser Gelegenheit gespielten Stücke.
    Chinatown, Solitude, Caravan, In the Mood, A Tisket A Tasket, Tiger Rag unter anderem .
    Im zweiten Teil des Konzerts gab es auch Chansons: Ménilmontant und La Polka du Roi .
    Ich erinnere mich an den sehr jungen Häftling, der diese Chansons bei den abendlichen Zusammenkünften sang, die im strengen Winter 1944/45 in den französischen Blocks organisiert wurden. Und nun erschien sein Name auf dem Programm! Ein Name, der mir dort nicht bekannt war. Ein Name, den ich sechzig Jahre später entdeckte. Er stand auf dem Programm, das Hajtmar mir schickte, der tschechische Musiker der Jazzband von Buchenwald, die Jiří Zak gegründet hatte, ein Kommunist,
Mitglied des illegalen Widerstandsapparats, gestorben im Hamburger Exil, da er nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen und der »Normalisierung« des Prager Frühlings 1968 aus seinem Land geflohen war.
    Ich kannte diesen Namen nicht, das Programm teilte ihn mir endlich mit: Vocal, Widerman, France.
    Er hieß also Widerman, der so begabte französische junge Häftling, der seine Kameraden tief erschütterte, indem er die Erfolgschansons von Charles Trenet sang.
    »Ménilmontant, mais oui, madame …«
    An einem Sonntag, einem der letzten Sonntage jenes Winters, des letzten Winters, des härtesten Winters all jener Jahre, haben wir die Stimme des jungen Franzosen über die Lautsprecheranlage des Lagers gehört. Vermutlich hatte einer der Lagerältesten von Buchenwald – der höchste Posten in der Hierarchie der inneren Häftlingsverwaltung – oder irgendein anderer deutscher kommunistischer Veteran, vielleicht der Kapo der Arbeit , Willi Seifert – er war dazu durchaus imstande! –, den SS -Offizier, den Rapportführer, überzeugen können, Widerman, denn so war sein Name, singen zu lassen.
    Es sei gut für die Moral der Franzosen, hatte er wohl gesagt, in ihrer Sprache jemanden singen zu hören, es sei eine Abwechslung zu den ewigen deutschen Schlagern von Zarah Leander! Und was gut für die Moral sei, sei gut für die Produktivität der Häftlinge. Und die Produktivität der Franzosen sei, wie allgemein bekannt, eine der schwächsten in den Gustloff-Rüstungswerken oder den DAW . Nur die Russen seien noch unproduktiver!
    Wahrscheinlich war es dem Lagerältesten – vielleicht Hans
Eiden – mit derartigen Scheinargumenten oder Spitzfindigkeiten gelungen, den Rapportführer davon zu überzeugen, Widerman über die Lautsprecheranlage Ménilmontant singen zu lassen.
    Jedenfalls war an einem Sonntag, gegen Mittag, als die Häftlinge zu Tausenden auf dem Appellplatz standen, die Stimme des jungen Widerman ertönt: »Ménilmontant, mais oui, madame … «
    Eine Art kaum wahrnehmbares Beben, starkes Atmen, stummes Aufschluchzen vor Glück lief durch die Menge der Häftlinge. Zwar verstanden die meisten die Sprache nicht: der genaue Sinn der Worte entging ihnen wahrscheinlich. Aber es war ein französisches Chanson mit lebhaftem, mitreißendem Rhythmus, das genügte.
    So hat plötzlich für diese Tausende von Europäern jeglicher Herkunft – Russen, Polen, Tschechen, Ungarn, Spanier, Niederländer, kurzum, alle Europäer waren hier, nur die Engländer fehlten, natürlich wegen der Freiheit der Inselbewohner –, für diese Tausende von Häftlingen, in ihrer großen Mehrheit Aktivisten des Maquis und der Widerstandsbewegungen, hat das Chanson von Charles Trenet plötzlich die Freiheit symbolisiert: ihre Vergangenheit voller Freuden und Kämpfe, ihre nahe siegreiche Zukunft.
    Es ist bekannt, alle Arten von Zeugnissen und Dokumenten bezeugen es, dass die französischen Häftlinge in den Nazilagern, und besonders in Buchenwald, ihren Unglücksgefährten imponierten – moralisch imponierten, versteht sich – durch ihren Mut und ihre Solidarität, um den miserablen politischen Ruf Frankreichs bei den
Bürgern Mittel- und Osteuropas zumindest ein wenig aufzuhellen – einen Ruf, der dem zu verdanken war, was alle als Verrat empfanden, als ein Im-Stich-Lassen, einen egoistischen und

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