Überlebensübungen - Erzählung
an das ich mich nicht erinnere, ausgewählten Stücke genau diejenigen, die Zak von seinen Musikern gerne spielen ließ.
Aber wo hatte dieses Konzert stattgefunden? Das Programm, das Hajtmar mir schickte, erwähnt dieses Detail nicht. Es beschränkt sich auf die Benennung, in drei Sprachen, Tschechisch, Französisch und Englisch – ich zitiere die französische Version, da ich für die Genauigkeit der tschechischen nicht garantieren kann und die englische offenkundig unkorrekt ist: »Jazz Concert in the deleberated (sic) Buchenwald«, steht hier ganz unbefangen –, in Französisch also: »Concert de Jazz dans le libre Buchenwald«.
Gut, aber wo genau?
Vielleicht auf dem Appellplatz. Dort, wo sich die Baracke der Arbeitsstatistik und das Gebäude des Krematoriums befand? Oder auf der entgegengesetzten Seite, wo sich die Kantine sowie das finstere Gebäude der Pferdehalle befanden, die, wie wir wussten, eine falsche Duschanlage barg, eine wahre Folterkammer, wo die Offiziere und Politkommissare der Roten Armee mit Genickschuss umgebracht wurden?
Oder vielleicht auch im großen Saal des Kinos, der, wie der Name besagt, ebenso für die sonntäglichen – überaus seltenen – Kinovorführungen vorgesehen war wie dafür, bei allzu schlechtem Wetter die Häftlinge zu versammeln, die zu irgendeinem Großtransport in die Außenlager Dora oder Ohrdruf oder an irgendeinen anderen tödlichen Bestimmungsort einberufen wurden?
Ich weiß es nicht, ich erinnere mich nicht mehr.
Im Übrigen sind mir die Dokumente, über die ich verfüge, deren ich mich sofort bedienen kann, um die Folge der Ereignisse bei der Befreiung Buchenwalds zu rekonstruieren, von keinerlei Nutzen. Keines dieser Dokumente weckt mein Gedächtnis oder frischt es auf: denn keines erwähnt dieses Jazzkonzert.
Für diesen 19. April 1945 beschränken sich diese Dokumente darauf, die Versammlung aller Überlebenden auf dem Appellplatz in Erinnerung zu rufen, die massive, begeisterte Billigung einer antifaschistischen Botschaft an die Öffentlichkeit der alliierten Länder, eine Botschaft, die in der parteiischen Historiographie Ostdeutschlands als »Schwur von Buchenwald« bekannt ist; ein von den deutschen kommunistischen Führern des bis dahin illegalen Internationalen Komitees inspirierter Text.
So stoße ich auf eine Menge Details in diesem »Schwur« vom 19. April, aber keines über das Konzert der Jazzband von Jiří Zak, das am selben Tag stattfinden sollte.
Dabei sind die mir zugänglichen Dokumente diverser Herkunft keineswegs unerheblich. Ganz im Gegenteil! Zwar erwähnen sie das Konzert vom 19. April nicht, aber wenn ich sie abermals prüfe, bringen sie mich zum Träumen.
Ein Bericht setzt sich von selbst fest, eine Art narrativer Nebel, der mögliche Fiktion und historische Wahrheit mischt.
Könnten Egon W. Fleck und Edward A. Tenenbaum Personen dieses Berichts sein?
Sie verdienen es.
Sie verdienten den privilegierten Status von Romanfiguren, deren Wahrheit sich nicht anfechten lässt. Wer wäre so vermessen oder so borniert arrogant, beispielsweise die Existenz von Fabrice del Dongo zu bestreiten? Oder von Julien Sorel? Das gleiche Abenteuer könnte Fleck und Tenenbaum widerfahren: beide besitzen die für Romanfiguren erforderlichen Eigenschaften.
Es würde genügen, sich dafür zu entscheiden. Es würde genügen, sich die Wahrheit einer Fiktion anhand von Dokumenten der Realität vorzustellen.
Egon W. Fleck und Edward A. Tenenbaum sind die ersten Amerikaner, die in die Umgebung von Buchenwald gelangten, in die Umzäunung des Lagers selbst vordrangen, am 11. April 1945 um 5 h 30 p. m.
Fleck war Zivilist, und aus keinem der mir zur Verfügung stehenden Dokumente kann ich ersehen, warum er hier auf dem Ettersberg war, in einem Armeejeep, zusammen mit Tenenbaum, der dagegen alle Gründe hatte, hier zu sein, denn er war Oberleutnant.
War Fleck Journalist? Ein mit irgendeiner speziellen Mission beauftragter Zivilist? Wie dem auch sei, auch wenn wir sonst nichts über sie wissen, nichts über ihr persönliches Leben, sie waren die ersten Amerikaner, die auf der Zufahrtsstraße zum Lager Buchenwald fuhren.
Also sprechen Sie diese jüdischen Namen aus, wiederholen Sie sie und halten Sie Ihre Tränen zurück, halten Sie Ihr Lachen zurück, Tränen und Lachen der Rührung, jubelnder Fröhlichkeit, wenn Sie diese listige Rache der Geschichte konstatieren, diesen ungeheuren Witz, dieses
ontologische Schnippchen: Fleck und Tenenbaum,
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