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Überlebensübungen - Erzählung

Überlebensübungen - Erzählung

Titel: Überlebensübungen - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ängstlichen Verzicht: der Kapitulation von München angesichts der Ansprüche Hitler-Deutschlands.
    Doch trotz dieses allgemeinen Gefühls der Enttäuschung oder des Grolls, trotz dieser Schwächung des moralischen Ansehens Frankreichs, weil es 1938 die junge tschechische Republik im Stich gelassen hatte, an deren Aufbau aus den Trümmern des Kaiserreichs nach 1919 es entschieden beigetragen hatte, trotz dieses historischen Streits blieb Paris die Stadt des Lichts.
    Oder vielmehr: Stadt der Lichter – der Aufklärung.
    Während meines Aufenthalts in Buchenwald haben mir Zeugen die entsetzliche Stille der Trauer geschildert, die sich im Juni 1940 über die Nazilager gesenkt hatte, als sich die Nachricht vom Fall von Paris verbreitete. Andere Zeugen haben mir später – der Bericht von Gustaw Herling in dem großartigen Buch Eine Welt ohne Erbarmen ist ein Beispiel dafür – von einer ähnliche Stille erzählt, die im gleichen Moment über die sowjetischen Gefängnisse und Lager hereingebrochen war.
    Ich selbst hatte einige Monate zuvor, im August 1944, ein vergleichbares Ereignis miterlebt, obwohl es genau die gegenteilige Bedeutung hatte. Ich hatte – keiner dachte an jenem Tag daran, die französischen Genossen herablassend anzusehen! – die Freude miterlebt, die in Buchenwald an dem Tag ausgebrochen war, als die Nachricht von der Befreiung von Paris bekannt wurde.
    »Ménilmontant, mais oui, madame …«
    Die junge Stimme von Widerman, dessen Namen ich soeben, sechzig Jahre später, durch Zufall erfahren hatte – aber gibt es einen Zufall bei dem Zusammentreffen von Ereignissen, die in meinem Leben immer der Anstoß zum Schreiben waren? –, die junge Stimme von Widerman hat über Tausende von Männern, in Habachtstellung erstarrt, den Atem der Freiheit wehen lassen.
    Aber nicht nur den Namen des jungen französischen Sängers erfuhr ich beim Lesen des von Miroslav Hajtmar geschickten Konzertprogramms.
    Denn abgesehen von dem Namen eines der Saxophonisten, Markowitsch, eines französischen langen Kerls serbischer Herkunft, herzlich und kämpferisch, den ich gut gekannt hatte, waren alle anderen Namen der Orchestermusiker neu für mich. Vermutlich hätte ich die meisten von ihnen wiedererkannt, hätte sie identifiziert, wenn ich ihnen begegnet wäre, aber ich hatte ihre richtigen Namen nicht gewusst.
    So erfuhr ich sechzig Jahre später, dass der belgische Schlagzeuger Verdenne hieß; der erste tschechische Gitarrist Muzik; der zweite, niederländische, Tase. Und der deutsche Pianist Goldschmidt.
     
    Aber ich hatte das Konzert vom 19. April 1945 vergessen.
    In gewisser Hinsicht überrascht mich das nicht übermäßig. Ich habe irgendwo einmal gesagt – aber ich kann es wiederholen, so erstaunlich und unerschöpflich ist diese Wahrheit –, dass die kurze Zeit meines Lebens, jene vierzehn
langen Tage, die zwischen der Befreiung des Lager am 11. April und meiner Ankunft in Paris am 30. lagen, am Vortag des 1.-Mai-Umzugs, dass diese zwei Wochen für mich gleichsam aus meinem Gedächtnis gelöscht sind.
    Gewiss sind bisweilen Gesichter, Episoden, eher kurze, aber sehr präzise, von einem intensiven Licht umgeben, aus dem Vergessen aufgetaucht. Mit ihnen, jedenfalls einigen von ihnen, habe ich meine Erfahrung in den Berichten Die große Reise und Schreiben oder Leben rekonstruiert.
    Doch wenn ich diese Erinnerungsbrocken Stück für Stück zusammensetze oder vor mir ausbreite – ich meine auf der visuellen und gedanklichen Ebene meiner Gedächtnisarbeit – wie die ungeordneten Teile eines Puzzles, kann ich nur einige wenige Stunden realer Zeit mit plausiblen Ereignissen füllen. Ein paar Zeitinseln, wiedergefunden in einem dichten Nebel, in einem Ozean unbewussten, aber hartnäckigen Vergessens: undurchdringlich, unzugänglich, unerklärlich.
    Jedenfalls hat keine Anstrengung der Anamnese – eine Übung, für die ich doch recht begabt bin – mir je ermöglicht, eine persönliche Erinnerung an das öffentliche Konzert der Jazzband von Jiří Zak, das am 19. April 1945 stattfand, dem Nichts zu entreißen.
    Ich weiß, dass es stimmt, ich habe keinen Grund, an dem Dokument zu zweifeln, das Miroslav Hajtmar mir geschickt hat. Dieses Programm enthält genügend Elemente, deren Wahrheitsgehalt ich bestätigen kann – angefangen mit den Namen von Darriet und Markowitsch, die ich beide gekannt habe –, so dass ich am Wahrheitsgehalt
des Ganzen nicht zweifle. Außerdem sind die für dieses Konzert,

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