Überlebensübungen - Erzählung
amerikanische Juden, an der Spitze der 3. Armee von Patton, die im Jeep zum Nazilager Buchenwald fuhren!
Man hätte nicht gewagt, es in einem Roman zu erfinden.
Aber man kann ihren Bericht in den amerikanischen Staatsarchiven finden unter der Nummer RG 331, SHAEF G -5, Akte 10: Bericht vom 24. April 1945 mit der Überschrift: Buchenwald: A Preliminary Report .
Darin ist folgender Abschnitt zu lesen:
»Wir bogen auf eine Hauptstraße ein und sahen Tausende zerlumpter, verhungert aussehender Männer, die in geordneten Reihen nach Osten marschierten. Die Männer waren bewaffnet und hatten Führer an ihrer Seite. Manche Einheiten hatten deutsche Gewehre, andere trugen auf den Schultern Panzerfäuste …«, Fleck und Tennenbaum verwenden das deutsche Wort für Bazooka, das ein universell gewordenes amerikanisches Wort für eine Antipanzerwaffe ist, für die es keine französische Bezeichnung gibt, »… andere trugen Handgranaten. Es waren die Insassen von Buchenwald, die in den Krieg marschierten, während unsere Panzer mit 40 Stundenkilometern vorbeirollten …«
Und jetzt wird es romanhaft.
Denn jetzt tauche ich in diesem Bericht auf. Ich meine: die konkrete Möglichkeit meines Auftauchens ergibt sich genau an dieser Stelle des Berichts von Fleck und Tenenbaum, an dieser Kurve der Hauptstraße von Buchenwald nach Weimar.
Denn ich war wirklich dort, unter den Häftlingen, die eine Panzerfaust, oder eine Bazooka, trugen.
Und ebendieses Eindringen des Realen macht den Bericht der beiden Amerikaner so romanhaft. Ich bin das Reale, stellen Sie sich vor! An jenem Tag bin ich zwanzig Jahre alt, der Tod entfernt sich langsam von mir. Es ist mein konkretes Erscheinen in Fleisch und Blut (wenig Fleisch vermutlich, viel Knochen: sie haben es notiert, die beiden schlauen Burschen, natürlich in Englisch! Sie haben über uns geschrieben: »hungry-looking men«), es ist das gespenstische, aber gebieterische Hervorbrechen des Realen, das den Bericht von Fleck und Tenenbaum plötzlich so romanhaft macht.
Gewiss, sie haben mich nicht gesehen, haben mich zumindest nicht erkannt in der Menge der Häftlinge in Kampfformation auf der Straße nach Weimar. Wie hätten sie es auch tun können? Auch ich habe es in meinem Blickfeld nicht isoliert, nicht auf der Retina des Gedächtnisses festgehalten, das Bild dieses Jeeps, der am 11. April am frühen Nachmittag zu dem monumentalen Eingang von Buchenwald fuhr.
Aber ich war da.
Ich kann bestätigen, dass sie sehr wohl gesehen haben, was sie betrachteten, auch wenn wir uns nicht selbst gesehen haben. Ich kann die Kehrseite ihres Berichts erzählen, die andere Seite des Erlebens, und damit diesem Ereignis eine romanhafte Wahrheitsdimension verleihen, diesem Zeugnis, das sich sonst wahrscheinlich verflüchtigt hätte; bestenfalls im Staub der Archive vergraben wäre.
Denn ich war da, unter den bewaffneten Häftlingen. Und ich trage eine Bazooka auf der Schulter.
»Panzerfaust«, sagen Fleck und Tenenbaum seltsamerwei
se. Dabei schreiben sie in Englisch, was logisch ist und sich von selbst versteht, da es ihre gewöhnliche Sprache ist. Jedenfalls ihre militärische Sprache. Ihnen stand folglich das Wort »Bazooka« zur Verfügung. Ein amerikanisches Wort, dessen Herkunft, dessen Etymologie ich nicht kenne, das jedoch universell geworden zu sein scheint, um diese individuelle Waffe zu bezeichnen.
Und zweifellos ist die Tatsache, das deutsche Wort zu benutzen, letztlich nicht ohne Bedeutung. Vielleicht wirft es einiges Licht auf das frühere Leben von Fleck und Tenenbaum. Wenn ihnen spontan das Wort »Panzerfaust« in die Feder fließt, auch wenn sie englisch schreiben, dann vielleicht deshalb, weil diese amerikanischen Juden, was immer ihr persönlicher Lebensweg gewesen sein mag, deutsch-jüdischer Abstammung waren, was die Natürlichkeit erklären würde, mit der sie zu dem deutschen Wort »Panzerfaust« greifen.
»Poing antichar«, in wörtlicher Übersetzung. Aber es stimmt, Bazooka braucht keine Übersetzung!
Sollte dies tatsächlich der Fall sein, sollten Fleck und Tenenbaum amerikanische Juden deutscher Abstammung sein, dann wären sie in allen Punkten Oberleutnant Rosenberg ähnlich – Albert G. Rosenberg –, der einige Tage nach ihnen in Buchenwald eintraf, genau am 16. April: Genauigkeit schadet der Romanhandlung nicht! Ein amerikanischer Oberleutnant, dem ich viel verdanke, mit dem ich in meinem ganzen Schriftstellerleben auf die eine oder andere Weise viel zu tun
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