Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Bühne aufgebauten Tafel und hörten einem Verkäufer zu, der ihnen Kissen, Heizdecken, Teppiche oder andere Dinge aufschwatzte. Ich erinnere mich, wie ich nachmittags, als niemand in der Gaststätte war, mit Hermann unter die Stammtischbank kroch und wie wir den ganzen Tag dort ausharrten, schließlich einschliefen und erst spät am Abend wieder wach wurden. Wir trauten uns nicht mehr unter der Bank hervor. Männer stritten sich an der Theke, ich sah Bierpfützen, Schuhwerk von Bauern, Zementwerksarbeitern, Lastwagenfahrern. Glasscherben knirschten. «Ich schlag dich tot», schrie einer. Sartorius kam, um die Streithähne zu trennen. Später, als alle gegangen und die Tür der Gaststätte abgeschlossen war, sahen wir Almas Turnschuhe, hörten, wie sie das Fenster öffnete, der Lärm des Rauschen hereindrang.
Blätter schweben aufs Wasser, wo sie, sich langsam drehend, in der Strömung treiben, auch Erinnerungen und Träume treiben vorbei, es gibt keinen Unterschied zwischen unseren Vorstellungen und der Wirklichkeit, alles sinkt irgendwann auf den Grund des Flusses, in stille Erinnerung, ins Alleinsein. Vater sagte immer, dass man nur allein richtig fischen könne. Erinnern kann man sich auch nur allein, so ist der Grund und die Tiefe von allem das Alleinsein.
Eine Wasseramsel scharrt im Laub, vom Campingplatz her höre ich Stimmen. Salm und Knuppeglas sind aus ihrem Transporter gestiegen und gehen zur Schenke. Gestern haben sie den ganzen Tag Setzlinge ausgebracht, auch heute sind sie wieder damit beschäftigt, haben es aber nicht mehr so eilig, weil das Wetter besser geworden ist – ein schöner lauer Herbsttag, der durch nichts daran erinnert, was gestern geschehen ist. Ich denke wieder an unser Gespräch am gestrigen Morgen, als wir, nachdem wir nicht zu Hermann vorgedrungen waren, wieder in der Küche saßen. Alma bediente die Brückenarbeiter, wir redeten über Hermann, dachten darüber nach, was wir tun könnten. Die ältere Schwester sagte, dass Hermann immer schon etwas seltsam gewesen sei – nach seinem Unfall im Zementwerk sei es aber noch schlimmer geworden.
«Ich hab mich für ihn geschämt», sagte Claudia. «Mein Mann musste sich in seiner Schule rotzfreche Bemerkungen von den Schülern anhören … Und dann diese Holländerin, der er wie ein läufiger Hund hinterhergerannt ist. Als man die dann im Frühjahr im Fluss gefunden hat, dachten einige hier, dass Hermann was damit zu tun hätte. Ja, ja, für euch ist das alles ganz einfach, ihr lebt ja nicht hier.»
Die jüngere Schwester entgegnete: «Was ist denn so schlimm daran, wenn jemand sich in sein Zimmer einschließt und nicht mehr rauskommen will? Hermann will mit sich allein sein, eigentlich wollte er’s ja immer schon.»
Alma war in die Küche zurückgekommen, schnitt Brot, holte dann Wurstaufschnitt aus dem Kühlschrank und erzählte, während sie den Aufschnitt auf eine Platte legte, dass Hermann sich in den letzten Monaten mit Salm und Knuppeglas herumgetrieben habe, so wie früher, bevor er von zu Hause weggegangen und zur See gefahren sei. Er sei wieder oft in der Campingschenke gewesen, dort verkehrten doch nur Gesindel, Amis und Drogentypen. Alma brachte Kaffee und Tee in die Gaststätte. Zurück in der Küche, nahm sie Eier aus dem Korb, den Reese mitgebracht hatte, und machte Rühreier. Reese hält noch ein paar Hühner, sie geht jeden Tag, bevor sie zu uns kommt, in den Stall, sieht nach ihren Hühnern und sammelt die Eier ein. Alma nahm ein Ei nach dem anderen, zupfte die Flaumfedern ab, schlug die Schalen am Pfannenrand auf.
Claudia und Renate waren wieder zu Hermann hinaufgegangen. Alma sagte, dass die Schwestern all die Jahre nicht angerufen, sich weder um Hermann noch um Mutter gekümmert hätten. Claudia habe sogar, wenn sie auf dem Weg zum Markt an der Gaststätte vorbeigegangen sei, zur anderen Straßenseite gewechselt – überhaupt halte sie sich wohl für was Besseres mit ihrem Gymnasiallehrer, den niemand hier ausstehen könne. Wenn die wüsste, dass ihr Sohn hin und wieder mit Freunden zum Kickerspielen hierherkomme …
Alma eilte mit den Rühreiern in den Gastraum, kam wieder zurück, ging zum Schrank, öffnete die obere Tür, stellte sich auf die Zehenspitzen, holte die Maggiwürze heraus und brachte sie den Gästen. Währenddessen war ein Zug in den Bahnhof eingefahren. Mit einem dieser Züge war Vater Ende der Vierzigerjahre in unseren Ort gekommen. Einer seiner Bekannten hatte von unserer Gegend
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