Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Absatz rostige Blechbüchsen, Gläser mit Mehl- und Tauwürmern, Holz- und Strauchmaden, Ohrwürmer, die kühl in Sägemehl lagerten, Flaschen mit getrocknetem Gras, mit gefangenen Heuschrecken, Mai- und Steinfliegen, Dosen mit einem Stück Fleisch oder Leber, auf dem Vater die Maden der blauen und grünen Schmeißfliege gezüchtet hatte. Die Maden hatten tropfenförmige, elfenbeinfarbene Körper, winzige, dunkle, vorstehende Äuglein. Vater hatte die Maden lebend auf ein geschärftes Goldhäkchen gezogen, sehr vorsichtig, damit ihr Körper nicht aufplatzte. Als Vater unmäßig zu trinken begann und krank geworden war, hielt er sich fast nur noch im Keller auf und experimentierte mit seinen Ködern, damals erschien er uns wie ein Gespenst. Von Zeit zu Zeit kroch er auf allen Vieren betrunken die Kellertreppe hinauf und wollte raus. Doch Mutter hatte die Tür vorsorglich verschlossen, wollte Vater nicht aus dem Keller lassen, weil er sonst getobt, das Haus demoliert und sie geschlagen hätte. Vater saß dann wimmernd auf den Stufen vor verschlossener Kellertür, bis er schließlich die Treppe wieder hinabpolterte. Nach einiger Zeit kroch er von dort wieder in den Gewölbekeller zurück, zu seinen Dosen, Flaschen, Ködern, Büchern und dem Fluss, der an der dicken Bruchsteinmauer vorbeiströmte. Zuletzt glaubte Vater, wenn er sein Ohr an den feuchten Mauerstein legte, ein Flüstern im Rauschen zu hören, sprach in seinem Delirium mit Fischen und verstorbenen Menschen, deren Stimmen er im Rauschen zu hören meinte.
Als ich hinter den Schwestern an der Kellertür vorbeiging, berührte Renate die Hand der älteren Schwester. In der Kindheit waren beide unzertrennlich gewesen und liefen oft Hand in Hand herum. Einmal, als sie aus der Schule kamen, war Alma mit Vater unten im Keller. Sie hörten, im Flur stehend, Almas und Vaters Stimmen. Seit diesem Tag, nach diesen Minuten im Flur an der Treppe, hatte sich keine der Schwestern mehr in den Keller hinuntergewagt.
Wir gingen durch das Treppenhaus und über den Flur zu Hermanns Zimmer. Alle drei standen wir vor seiner Tür und versuchten, mit unserem Bruder zu reden, ihn zu überzeugen, die Tür zu öffnen. Schließlich sagte Claudia, er solle endlich erwachsen werden, sich fügen, wie alle anderen auch. Aber Hermann antwortete nicht. Es war so still, wir wussten ja nicht einmal, ob Hermann überhaupt in seinem Zimmer war. Renate hatte die Idee, vom Nebenzimmer zu ihm hinüberzuschauen. Ich lehnte mich weit über die Brüstung, blickte auf Hermanns kleinen Balkon, auf dem nur Gerümpel und Plastikstühle standen, aber die Gardinen vor Hermanns Fenster waren zugezogen.
«Siehst du was, Leo?», fragte Claudia.
«Früher wären wir da einfach rübergeklettert», sagte die jüngere Schwester. Sie zog mich zurück, als ich über die Brüstung steigen wollte. «Lass, Leo, die Balkontür wird auch abgesperrt sein.»
Schließlich gingen wir durch den Flur zum Aufenthaltsraum, einem gemütlich eingerichteten großen Zimmer mit einem Sofa, Sesseln, Fernseher und einer Bar, an der sich die Gäste ihre Getränke selbst nehmen konnten. Als Kinder hatten wir oft in diesem Raum gesessen und ferngesehen.
Die jüngere Schwester blieb an die Wand gelehnt stehen und sagte, dass ihr schwindlig sei, sie wisse gar nicht, was sie hier noch mache, Hermann würde sich sowieso nicht helfen lassen, habe immer gemacht, was er wollte, und sich um niemanden geschert. Sie redete von ihrer wichtigen Arbeit, sagte, dass sie für den ganzen Einkauf in der Firma verantwortlich sei und am Abend noch einmal ins Büro müsse, um die Bestellungen zu überprüfen und sie an die Lieferanten rauszuschicken. Wenn sie das nicht täte, hätten sämtliche Filialen am nächsten Tag keine Ware. An der Wand neben ihr hing eine von Hermanns Zeichnungen, eine Groppe. Ich erinnerte mich sofort, wie wir als Kinder mit Hermann im seichten Wasser gestanden hatten; Hermann hatte vorsichtig einen Stein hochgehoben und gewartet, bis der aufgewühlte Schlamm sich gesetzt und er uns diesen urzeitlichen Fisch mit seinem dicken Kopf, den Glupschaugen und Flossen, die wie lange Ohren hinter dem Kopf standen, gezeigt hatte. Ein Fisch, der keine Schwimmblase hatte und, wie ein kleiner Mensch, über den Grund des Flusses wandelte.
Die ältere Schwester redete über Alma, gab ihr die Schuld, dass Hermann so seltsam geworden sei, fügte noch hinzu, sie habe gehört, dass Alma mit einigen Gästen – auch mit Salm – Verhältnisse
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