Überm Rauschen: Roman (German Edition)
stand, sie ließen ihn reden, tranken auf seine Kosten, bis sie betrunken waren, und erzählten ihm dann ihrerseits unglaubliche Lügengeschichten, die Vater gern für wahr annahm. Er notierte alles in Hefte und glaubte tatsächlich alles – obwohl er eigentlich kein dummer Mann und in gewisser Weise klug und gebildet war. Er sagte einmal, niemand könne wissen, was wirklich wahr oder falsch sei, daher sei es klüger, dasjenige zu glauben, das man glauben möchte, auch wenn es noch so fantastisch sei.
Hermann war wie Vater, vor allem hatten sie dasselbe Verhältnis zum Fluss und zu den Fischen. Vater nahm Hermann schon als kleinen Jungen mit zum Fischen – mich beachtete er bald nicht mehr, ich war kein so gelehriger Schüler. Hermann war mehr Vaters Sohn, als es ein leiblicher je hätte sein können. Er wollte, dass Hermann das Gymnasium besuchte, und er ahnte große Begabungen in ihm. Hermann sollte all das machen, was Vater selbst gern erreicht hätte.
Mein Bruder löste tatsächlich Mathematikaufgaben schneller als seine Mitschüler, warf nur einen Blick darauf und hatte sofort die Lösung parat – doch Rechtschreibung konnte er nicht gut, er machte zu viele Fehler, so viele, dass man oft gar nicht verstand, was er geschrieben hatte. Als ich später in der Schule auf Hermanns Platz saß und meine Aufgaben nicht sogleich lösen konnte, sah der Lehrer, der auch Hermann unterrichtet hatte, mitleidig auf mich herab und fragte: «Bist du dir sicher, dass du Hermanns Bruder bist?» Hermann war zu dieser Zeit bereits auf dem Gymnasium. Aber das Lernen fiel ihm dort nicht mehr so leicht, wie wir alle angenommen hatten. Er hockte alleine in der hintersten Reihe, malte seine Fischbilder, träumte vom Angeln, schwänzte die Schule und stromerte dann am Fluss entlang. Manchmal traf er sich abends heimlich mit Alma, spazierte mit ihr zur Mariensäule, wo sie bis in die Nacht hinein saßen und redeten. Alma erzählte er damals schon, dass er keine Lust habe, all die unnützen Dinge zu lernen, dass er vieles nicht verstehe und auch nicht verstehen wolle. Vater konnte ihm noch so sehr zureden, Hermann gab sich in der Schule keine Mühe mehr, war längst zum Gespött seiner Mitschüler geworden, sodass er das Gymnasium verließ und bald wieder unsere kleine Schule besuchte.
Groppe (Cottus gobio) , ihr dicker Kopf mit breitem Maul lugt aus einer Höhle unter einem Stein hervor. Sie ist ein Geschichtenerzähler, der im Schlamm wühlt und Dinge hervorbringt, die niemand hören will, so wie Zehners nutzlos dahergeplappertes Gerede. Die Groppe hat keine Schwimmblase, bewegt sich nachts mit gespreizter Brustflosse ruckartig über den Flussgrund. Sie hat einen keulenförmigen, schuppenlosen Körper, ihr Rücken und die Flanken sind grau mit unregelmäßigen Marmorierungen und Fleckenmustern, auf dem Rücken hat sie einen kräftigen nach hinten gekrümmten Dorn, eine große gefleckte Brust- und Bauchflosse. Nur diese Hässlichkeit bewirkt, dass sie immerzu Geschichten erzählen muss.
12
Der Fluss ist eine Matrize, auf der sich alles unentzifferbar einritzt – für uns bleibt es danach verborgen –, aber ich weiß, dass es dennoch da ist, man es ahnen und davon träumen kann, vielleicht wissen die Fische es auch. Es hilft mir, dass ich im Fluss stehe und fische, es lenkt mich ab, verlangt gleichzeitig hohe Konzentration. Erinnerungen treiben auf mich zu, verschwinden wieder, und andere kommen.
Gestern Morgen rollte Reeses Wollknäuel vom Küchentisch, kam neben dem Tischbein zu liegen, die Schwester bückte sich, um das Knäuel aufzuheben. Der Wollfaden kringelte sich auf dem Boden. Reese zog am Faden, die Nadeln klickten wieder gegeneinander. Sie redete vom Kirchenchor, in dem sie als junge Frau gesungen hatte, vom Munitionsbunker im Kalvarienberg, wie ein Soldat damals kurz nach dem Krieg in die Gaststätte gestürzt war und geschrien hatte, der Bunker brenne, und Reese mit Mutter Hals über Kopf aus der Stadt geflohen war; sie hatten das alte Schwimm bad erreicht, als die Sirenen heulten, die Erde bebte, und der Kalvarienberg mit der Kapelle des Einsiedlers flog in die Luft, eine riesige Staubwolke verdunkelte das ganze Tal. Lange rieselte Staub herab, es war düster, obwohl es helllichter Tag war. Als sie nach Hause kamen, war alles zerstört und voller Staub, wie nach einem schrecklichen Bombenangriff, die Kuppe des Kalvarienberges war weggesprengt, auch die kleine Kapelle, in der vor langer, langer Zeit der
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