Überman
Scheiss muss ich
Es läuft nicht gut zwischen mir und meinem Hausarzt: Dr. Parisi ist unzufrieden mit mir als Patient, ja fast schon ungehalten. Stumm scrollt er sich auf dem Bildschirm durch meine Akte. Ich lasse meine müden Augen über die blitzsaubere Oberfläche seines Edelholz-Schreibtisches wandern bis zu einer großen weißen Teetasse, deren Inhalt inzwischen auf Zimmertemperatur abgekühlt sein muss. Bis auf den Dreitagebart hat Parisi sich nicht verändert: Noch immer klebt eine weiße Architektenbrille auf seiner schmalen Nase, noch immer gibt er sich mit seinem blondierten Resthaar alle Mühe, ansatzweise jugendlich zu wirken, noch immer ist sein Bildschirm viel zu klein. Endlich räuspert sich Parisi, dreht sich mit vorwurfsvoller Miene zu mir und sagt: »Zwölfter Neunter Zweitausendundsieben!«
»Wie bitte?«, frage ich leise nach.
»Am 12 . 9 . 2007 um 9 Uhr 30 wollte er die Blutwerte besprechen mit mir, aber er ist nicht erschienen.«
Okay. Parisi hat noch immer den Fimmel mit der dritten Person. Nun ja, seit 2007 weiß ich ja nun, dass ich gemeint bin. Parisi nimmt die Brille ab und dreht sich dynamisch zu mir. »Hab mich sehr geärgert damals, weil ich über eine Stunde Leerlauf hatte an diesem Tag.«
»Was haben Sie denn gemacht in der Stunde?«
»Ein Allgemeinbildungsquiz im
Focus
.«
»Und?«
Parisi räuspert sich wieder, setzt die Brille wieder auf und dreht sich zu seinem Bildschirm. »Ich kann jetzt Gebäude aus dem Rokoko besser erkennen.«
»Das können Sie sicher oft gebrauchen!«
»Kann ich nie gebrauchen.«
Nach einem kurzen und unangenehmen Moment des Schweigens wage ich es zu fragen, wie meine Blutwerte denn nun sind.
»Also, vor fünf Jahren waren sie eine Katastrophe, offenbar mochte er seinerzeit das Bier und die Wurst recht gern. Wie sie heute sind, weiß ich freilich nicht, da müsste ich ihn noch mal anzapfen.«
»Logisch«, sage ich kleinlaut, und dann fragt mich Parisi, was es denn nach all den Jahren so Wichtiges gebe, dass ich ohne Termin hier reinplatze, während jemand mit Termin im Wartezimmer sitze.
»Ich … also … er möchte Sie um ein Medikament bitten, das mi– … das ihn leistungsfähiger macht. Irgendwas, das ihn länger wach hält, weil …«
Skeptisch nimmt Dr. Parisi seine Brille ab. »Weil er durchtanzen möchte, bis es hell wird, und irgendwelche viel zu jungen Hühner aus Diskotheken abschleppen, um versaute Sachen mit ihnen zu machen, alles zu filmen und ins Internet zu stellen?«
Ich starre Parisi an. »Es ist eigentlich ein bisschen was anderes …«
»Schade. Was ist es denn?«
»Also, ich … er hat eine sehr wichtige Sache zu erledigen in den nächsten Tagen, die wichtigste in seinem Leben vermutlich, und für diese Sache ist die Zeit so unfassbar knapp, dass er es einfach nicht schaffen würde in der normalen Zeit.«
»Er hat noch immer viel zu tun, oder?«
»Wer?«
»Er! Also – Sie.«
»Wahnsinnig viel zu tun! Also … sagen wir so: In sechs Tagen muss er … etwas abgeben, das er noch nicht hat.«
Neugierig beugt sich Parisi über seinen Edelholztisch. »Er hat es noch überhaupt gar nicht oder schon ein bisschen?«
»Er hat es überhaupt noch gar nicht! Es ist alles … ungeordnet und wirr, und sein Anwalt geht nicht ans Telefon, und jetzt hat er die Panik, dass er es nicht schafft.«
»Er schreibt an einem Buch, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie das?«, frage ich erleichtert.
»Ich hab geraten. Und er muss auch gar nicht weitersprechen, ich kenne das doch!« Parisi steht auf und flattert wild gestikulierend durch sein Zimmer. »Und wie ich das kenne! Ständig schmeißt man alles um, gerade den Anfang, den Anfang schmeißt man immer um, und dann ruft man beim Verlag an und sagt: ›Bitte, bitte, nur noch einen Tag mehr, sonst lande ich in der Gosse oder werde kriminell und komme in den Knast‹, aber dann sagen sie, dass sie diesen Tag nicht haben, weil die Lektoren schon warten und die Setzer und die Korrektoren und die Drucker und die Händler und die Leser und der dicke Kritiker, alle warten sie darauf, dass man in der Gosse landet und in den Knast kommt. Schrecklich!«
»Schrecklich!«, wiederhole ich und wundere mich, wie nahe Parisi so plötzlich bei mir ist.
»Ich schreibe nämlich auch an einem Buch, wissen Sie?«, fügt er mit leuchtenden Augen hinzu und setzt sich wieder.
»Im Ernst? Oh, da müssen Sie mir aber unbedingt verraten, wie es heißen wird.«
»Einen Scheiß muss
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