Überman
Gedanken, von denen sich jeweils einer für ein paar Sekunden nassforsch nach vorne drängt: Wen soll ich überhaupt mitnehmen in den Keller? Nur die, die definitiv denken, dass ich ein Arsch bin, oder auch die, von denen ich es noch nicht genau weiß? Wie kriege ich die Leute überhaupt in den Weinkeller so kurz vor Weihnachten? Eignet sich der Keller überhaupt? Was, wenn gar nichts passiert am 21 . 12 . und ich dastehe wie ein Vollidiot? Sollte ich nicht vielleicht doch vorher Beweise sammeln, dass die Aktion nicht nur auf einem Gefühl basiert, sondern auf messbaren Fakten? Sollte ich vielleicht doch versuchen, die Angst der Anderen zu vermessen? Was ist mit meiner Steuerzahlung? Oder ist die gar nicht mehr wichtig, wenn sowieso alles den Bach runtergeht?
Blinzelnd schaue ich auf die Uhr. Achtzehn Minuten Schlaf hab ich noch. Unfassbar, was man in zwei Minuten alles denken kann.
Ich lege mich auf den Rücken und versuche an etwas Großes und Positives zu denken, statt mir mit vielen kleinen Fragen das Einschlafen zu erschweren. Dann stelle ich mir den Moment vor, in dem meine Freunde im Weinkeller realisieren, dass sie sicher sind bei mir. Wie wird es sein? Werden sie weinen, mich umarmen?
Wie wird es mit Annabelle sein, wenn ihr Traum in Erfüllung geht, über Nacht im Keller zu bleiben, und dann noch mit mir und ihren Freunden? Wieder so, wie ganz am Anfang, als ich frech bei ihrer WG geschellt hab, obwohl wir uns bis dahin nur von der Procter & Gamble-Verbraucherberatung kannten?
»Ich möchte nicht aufgenommen werden zu Schulungszwecken und ein Bier mit dir trinken«, habe ich in die Sprechanlage gestammelt, aber dann ging der Türsummer. Zitternd vor Nervosität bin ich die hölzerne Treppe hochgeknarzt, und da stand dann dieser strahlende Engel in der Tür mit dem wilden blonden Lockenkopf und dem bunten Streifenpulli und fragte, was ich denn jetzt schon wieder hätte, und als ich ihr leidend meine in der Pringles-Dose festgeklemmte Hand präsentierte und sie einen Lachanfall bekam, da wusste ich schon, dass ich nicht mehr gehen würde an diesem Abend.
Traurige Synthesizer schaben an meinem Halbschlaf, dann setzen Klavier und Schlagzeug ein und der ach so bedeutungsschwere Gesang setzt ein. Der Zufallsgenerator in meinem Handy ist ein böswilliger, schadenfroher Zahlentroll. Eine einzige Ballade kenne ich von Rammstein, und ausgerechnet mit der werde ich geweckt.
Ohne dich kann ich nicht sein
Ohne dich
Mit dir bin ich auch allein
Ohne dich
Ohne dich zähl ich die Stunden ohne dich
Mit dir stehen die Sekunden
Lohnen nicht
Langsam öffne ich meine brennenden Augen und drücke den Song weg. Verdammtes Teutonengejammer. Beim nächsten Nickerchen lass ich mich von den Höhnern wecken mit ›Viva Colonia‹!
Die Vermessung der Angst
Noch 21 Blöcke
Ich befinde mich im ersten Drittel von Wachblock minus 21 , das heißt, dass ich noch 21 Wachblöcke à vier Stunden Zeit habe, um alles vorzubereiten. Werd keine Tage mehr zählen und Stunden, das sind schließlich die Einheiten der Anderen, und zu denen gehöre ich ja schon mal nicht.
Die exakte Vermessung der Angst, so habe ich entschieden, ist ein sehr wichtiger Teil meines Plans. Sie ist die Garantie, nicht als Idiot dazustehen am Ende. Nun gibt es natürlich leichteres, als nach so einem Tag und so einer Nacht an einer Formel zu brüten, die nicht weniger leisten soll, als den Verlauf des 21 . 12 . vorauszusagen, aber es ist nicht unmöglich, zumindest für mich nicht, gerade weil ich kein Wissenschaftler bin. Gäbe man irgendeiner Universität der Welt den Auftrag, die Angst zu messen, sie kämen nach sieben Jahren mit einem tausendseitigen Werk zurück, dessen Fazit lautet, dass die »Angst der Anderen« zu ungenau definiert ist, und überhaupt bräuchte man noch einmal siebzehn Millionen Euro Fördergelder für die Errichtung einer Schreck-Station. Dabei wäre die Definition so einfach: »Angst« ist alles, was einen saublöde Sachen machen lässt. Und »die Anderen« sind alle außer mir selbst. Basta. Ende der Definition.
Nach reiflicher Überlegung entscheide ich mich für fünf Indikatoren, mit denen ich die steigende Angst nachweisen will. Jetzt kann man natürlich sagen, dass diese beliebig ausgewählt sind und daher von sehr eingeschränkter Aussagekraft. Ja, sie sind beliebig ausgewählt. Na und? Ich halte dem entgegen, dass ich ja nur die Zunahme der Angst vermessen will und nicht die Angst an sich. Wenn ich die
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