Überraschung kommt selten allein
dass das naiv war – kein Mann war so perfekt, keine Beziehung so einfach –, aber wie hätte sie wissen sollen, dass Ed ganz und gar nicht der charakterlich integre Mann war, für den sie ihn gehalten hatte? Warum hatte er ihr nichts von der Geschichte mit Marma erzählt? Wollte er sie wirklich nur schützen? Oder wusste er, wie entsetzt sie über seinen sehr aktiven Part bei der Erniedrigung und Bestrafung ihrer Mutter gewesen wäre?
Sie wünschte, sie hätte ihre Schuhschachtel bei sich. Sie wusste genau, wo sie war. Sie stand unter dem Hochstühlchen auf dem Speicher in Bath. In der Schuhschachtel befanden sich alle Karten, Zettel und Briefe, die sie von ihm bekommen hatte. Wenn sie sie jetzt, im Licht ihres neuen Wissens, noch einmal las, konnte sie vielleicht herausfinden, ob ihre perfekte Beziehung auf nichts anderem beruhte als auf der simplen Tatsache, dass sie die Tochter von Michael Trussler war.
Es war eine gute Idee, nach Bath zu fahren. Abgesehen von allem anderen war es höchste Zeit, von dem Haus im Cleveland Walk richtig Abschied zu nehmen. Jetzt wurde ihr klar, dass sie sich in ihr aufregendes, neues Leben gestürzt hatte in dem komfortablen Glauben, jederzeit in das alte zurückkehren zu können, wenn etwas schiefging. Es war an der Zeit, diese Sicherheitsleine zu kappen. Das war sie Tony schuldig. Er war ein unfreiwilliges Opfer dieses schmutzigen Dramas. Kein Wunder, dass sie ihn nicht hatte glücklich machen können, solange sie einen Mann verehrte, der so tatsächlich nie existiert hatte.
Ein Kunde sagte eine Geburtstagsparty ab und bescherte ihr einen unerwarteten freien Tag. Am Montag rief Alberta Evie an und fragte, ob sie am Donnerstag zum Lunch kommen könne; sie wolle ein paar Sachen holen, sagte sie. Die Schuhschachtel erwähnte sie nicht.
Hannah war außer sich vor Freude über Harrisons E-Mail. Sie hatte sie mehrmals gelesen, was angesichts ihrer Kürze – Lust auf einen Drink, Mittwoch, 18.15 Uhr? – nicht lange gedauert hatte. Am Mittwochmorgen wusch sie sich die Haare besonders schwungvoll, und ehe sie am Abend das Büro verließ, verbrachte sie mindestens zwanzig Minuten auf der Damentoilette, um ihr Make-up aufzufrischen.
Um Punkt Viertel nach sechs kam sie im Copper Arm an und schaute sich ungeduldig um. Sie entdeckte ihn an einem Tisch am Fenster. In einer leuchtend grünen Jacke, einen dünnen, grauen Schal um den Hals, saß er dort über sein Handy gebeugt. Sie sah, dass er ihr bereits etwas zu trinken bestellt hatte, was nett und aufmerksam und irgendwie beunruhigend war. Als er sie sah, stand er auf und lächelte, und Hannahs Herz setzte einen Schlag aus. Sie hatte dieses Lächeln schon zwei- oder dreimal gesehen, allerdings hatte es bis jetzt nie ihr gegolten. Es war das Lächeln eines Mannes, der versucht, sich aus den Fängen einer Frau zu befreien.
Hannah konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben solche Angst gehabt zu haben. Sie hatte einmal gelesen, dass Mary, Königin von Schottland, darauf bestanden hatte, ein wunderschönes Kleid anzuziehen, ehe sie zu ihrer Hinrichtung schritt. Und hier stand sie, Hannah, in ihrem schönsten pinkfarbenen T-Shirt aus Seide und einer äußerst schmeichelhaften grauen Hose, auf dem Weg, gesagt zu bekommen, dass sie für immer und ewig aus Harrisons Leben gestrichen war.
Sie ging zu ihm hinüber und sagte fröhlich: »Danke für den Wein.«
»Schön, dich zu sehen«, sagte Harrison.
Sie beobachtete, wie er sein Handy ausschaltete und es in die Jackentasche gleiten ließ. Er wirkte nicht so, als freute er sich, sie zu sehen. »Du siehst gut aus«, sagte sie.
»Du auch. Echt klasse.« Er blickte auf sein Glas und dann in Richtung Theke und schließlich unbeholfen zu ihr. »Ich fürchte, ich kann nicht lange bleiben, ich habe schrecklich viel zu tun …«
»Schon okay«, sagte Hannah niedergeschlagen. »Ich muss auch noch was arbeiten.«
»Also.« Harrison trank einen Schluck Wein. »Wie läuft es im Job?«
»Besser als vorher«, sagte Hannah. Es war sinnlos. Sie war noch nie gut in höflicher Konversation gewesen. Wenn sie schon zum Untergang verdammt war, würde sie wenigstens kämpfen. Sie trank einen Schluck Wein und fixierte ihn herausfordernd. »Neulich hat mich jemand dabei erwischt, wie ich auf dem Klo geheult habe, und seitdem scheinen die Leute netter zu mir zu sein.«
»Warum hast du geweint? Hatte es etwas mit dem Artikel im Telegraph zu tun?«
»Hast du ihn gelesen?«
»Ja«, antwortete Harrison.
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