Überraschung kommt selten allein
erfreulich. All ihre Zweifel, all die vorsichtigen Versuche, sich einen Reim auf die Vergangenheit zu machen, führten letztendlich zu einem vernichtenden Urteilsspruch. Ihre Ignoranz gegenüber dem wahren Charakter ihres Mannes wurde nur noch von der Blindheit gegenüber ihrem Vater übertroffen.
Pa war rachsüchtig und grausam gewesen. Er hatte Marmas einjähriges Exil in Kanada angezettelt. Schlimmer noch, nach Eds Tod hatte er dafür gesorgt, dass sie von der Außenwelt abgeschnitten blieb. Er hatte ihr Elternhaus verkauft, möglicherweise weil Marma Peter Repton dorthin mitgenommen hatte. Oder, was wahrscheinlicher war, weil er wusste, wie sehr sie dieses Haus mochte. Alberta bezweifelte nicht, dass ihr Vater sie geliebt hatte, aber der Wunsch, seine Frau zu bestrafen, war eindeutig mächtiger gewesen als der Wunsch, seiner Tochter zu helfen.
Sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater mit ihr über Marmas plötzliche Abreise nach Kanada gesprochen hatte. Er hatte sich vorsichtig ausgedrückt, sie nicht offen kritisiert, heute allerdings erkannte sie, dass er das zerstörerische Bild einer egoistischen, ruhelosen, nach Selbsterfüllung suchenden Frau gezeichnet hatte. »Sie stürzt sich immer mit ganzem Herzen in ihre Projekte«, hatte er ihr erklärt. »Es ist keine Überraschung, dass sie sich so benimmt. Ihr Wunsch, von ihrer Familie in England Abstand zu halten, gehört dazu. Mach dir nichts draus«, hatte er zu Alberta gesagt, ehe er für vierzehn Tage nach Brüssel flog, »ich passe schon auf dich auf.«
Sie konnte verstehen, dass ihr Vater wütend über Marmas Untreue war, sogar dass er sich rächen wollte. Trotzdem erschien ihr seine Reaktion absolut unangemessen. Die einzig mögliche Erklärung, wenn auch keine Rechtfertigung, war, dass er wirklich glaubte, Marma sei verantwortlich für Eds Tod.
Aber wie konnte ein vernünftiger Mensch Marma für etwas verantwortlich machen, was letzten Endes einfach ein tragischer Unfall war? Nachts lag Alberta im Bett und versuchte, sich an die schreckliche Zeit nach Eds Tod zu erinnern. Sicher, Pa war genauso untröstlich wie sie gewesen. Sie erinnerte sich an einen Abend, als er sie irgendwo in der Nähe des Hauses ihrer Schwiegereltern zum Essen ausgeführt hatte. Sie sprachen nur über Ed, und nachdem er die Rechnung bestellt hatte, lächelte er traurig und gestand ihr, dass für ihn jede Freude an der Politik verschwunden sei. Er hatte Ed geliebt wie einen Sohn. Ja, eigentlich hatte er Ed mehr geliebt als Christopher.
Und dann war da noch Ed. Was sollte sie mit Ed machen? Mit jeder neuen Enthüllung wurde er ihr ein größeres Rätsel. Sie hatte gedacht, näher als sie und Ed könnten sich zwei Menschen nicht sein. Und doch war er dazu fähig gewesen, abends nach Hause zu kommen und der liebende Ehemann und sanfte Vater zu sein, nachdem er tagsüber ihre Mutter schikaniert und den Liebhaber ihrer Mutter bestochen hatte. In den Wochen vor seinem Tod war ihr nichts Außergewöhnliches aufgefallen. Sicher, er hatte mehr Zeit in London verbracht und wenig darüber erzählt, was er dort tat. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Ed hatte immer gesagt, zu Hause wolle er abschalten und die Arbeit vergessen. Was nicht stimmte . An den meisten Wochenenden rief Pa Ed wegen irgendeines Problems an, und sie konnte zusehen, wie er aufblühte, aufmerksam zuhörte und eloquent und enthusiastisch redete. Er liebte die Intrigen, die Deals und das Taktieren ebenso sehr wie Pa.
Sie kannte Ed fünf Jahre, und bis auf den rothaarigen Jungen auf Mallorca – sie hatte offensichtlich einen Hang zur Heldenverehrung – war sie sich ihrer Gefühle nie so sicher gewesen. Während ihrer kurzen Ehe hatte sie mit ihrem ganzen Herzen geglaubt, dass er ein ehrlicher, anständiger und intelligenter Mann war. Erst jetzt, zwei Jahrzehnte später, begriff sie langsam, dass die Liebe ihres Lebens genauso wenig echt war wie ihre Westernhelden.
Hatte Ed sie geliebt? Konnte er sie überhaupt lieben, wenn er sie von einem großen Teil seines Lebens ausschloss? Sie hatte all die Jahre mit Tony in dem Glauben verbracht, dass das, was sie mit ihm hatte, nicht mithalten konnte; dass es gegenüber dem, was sie mit Ed gehabt hatte, nur einen müden zweiten Platz einnahm. Unter den Umständen war es ein Wunder, dass die Beziehung zwischen ihr und Tony so lange gehalten hatte. Die ganze Zeit hatte sie geglaubt, dass Ed ihre große, einzigartige, einmal-im-Leben Liebe gewesen sei. Jetzt wusste sie natürlich,
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