Überraschung kommt selten allein
augenblicklichen Lage blieb ihr allerdings nichts anderes übrig. In den vergangenen vierzehn Monaten hatte sie zwei Stellen gekündigt und war bei einer dritten gefeuert worden. Der Job im Marketing der Envers Production Company war ihre letzte Chance, ihren zunehmend angeschlagenen Lebenslauf vor dem freien Fall zu bewahren. Demzufolge war es besonderes Pech, als sie an ihrem ersten Arbeitstag entdeckte, dass ihre Chefin die Hölle war.
Als Hannah nach Hause kam, merkte sie gleich, dass es ein schlimmer Tag gewesen war. Kitty lag, ihre rote Wollmütze fest über die Korkenzieherlocken gezogen, auf dem Sofa und schaute Vier Hochzeiten und ein Todesfall . Die rote Wollmütze trug Kitty nur, wenn sie sich besonders aufregte.
Auf dem Bildschirm wirbelte Andie McDowell gerade in verschiedenen Hochzeitskleidern vor Hugh Grant herum, der sich die größte Mühe gab, so zu tun, als könnte er die Augen nicht von ihr lassen.
»Ich begreife nicht, wie du dir das anschauen kannst«, sagte Hannah.
»Wer von uns«, sagte Kitty, ohne mit der Wimper zu zucken, »ist denn in Tränen ausgebrochen, als Hugh Grant in Mitten ins Herz für Drew Barrymore gesungen hat?«
»Das war etwas anderes«, verteidigte sich Hannah. »Damals war ich hundemüde.«
»Das bin ich auch«, sagte Kitty. »Und wenn ich müde bin, gibt es nichts Besseres als zuzusehen, wie Andie McDowell Hugh Grant einfältig anlächelt.«
Hannah warf ihrer Freundin einen liebevollen Blick zu. »Was war im Büro?«
»Ich will gar nicht darüber reden. Auf dem Tisch steht noch ein halbes Glas Tomatensauce, und es gibt jede Menge Nudeln, wenn du etwas zu essen willst.«
»Danke.« Hannah griff nach einem neuen Buch auf dem Tisch und betrachtete den Einband. Der Titel, Bekenntnisse einer pensionierten Lehrerin , zog sich in grellen Rottönen über das Foto einer grauhaarigen Lehrerin, die mit dem Rücken zur Kamera stand. Sie sprach zu einer Klasse mit lauter hübschen, mürrischen, halbwüchsigen Jungen. Mit der einen Hand hielt sie ein Stück Kreide hoch, mit der anderen umfasste sie hinter ihrem Rücken eine Peitsche. Die Lehrerin trug ein harmloses Tweedjackett, doch das Pult versteckte vor den Kindern einen eng anliegenden, schwarzen Rock, Netzstrümpfe und rote High Heels mit Pfennigabsätzen. »Kitty«, sagte Hannah. »Das sieht aus wie der totale Schund!«
»Ich weiß«, sagte Kitty. »Und ich kann es kaum erwarten, damit anzufangen. Aber das Cover ist irreführend. Es sind die wahren Erinnerungen einer Lehrerin. Pädagogisch ausgesprochen wertvoll.«
»Ja, klar«, grinste Hannah. »Also, wie war es heute?«
Kitty verzog das Gesicht. »Es war scheußlich. Ich zähle die Tage bis zum Urlaub. Melanie hat mich vor allen Leuten runtergeputzt, und Conrad hat sich diebisch darüber gefreut. Sie hat mich doch tatsächlich gefragt, ob es an bestimmten Tagen läge, und als ich sie gefragt habe, welche Tage sie meint, hat sie wissend in die Runde gelächelt und gesagt, dann ist ja alles klar! Ich weiß, was sie vorhat. Sie will, dass ich einen Wutanfall kriege. Sie will, dass ich durchdrehe und abhaue. Ich habe kein Wort gesagt. Du wärst stolz auf mich gewesen. Ich tue mein Bestes, um durchzuhalten, bis ich Urlaub habe. Heute wäre ich beinahe ausgerastet, aber das hätte Conrad richtig gefallen. Ich hasse Melanie, und ich hasse Andie McDowell. Entschuldige, dass ich so schlechte Laune habe. Das wird bald wieder besser.«
Hannah tätschelte Kitty mitfühlend die Schulter und ging in die Küche. Das Dilemma ihrer Freundin machte sie sehr traurig, aber Kitty war zweifelsohne eine Expertin im Hassen von Menschen. Das Schöne am Zusammenleben mit Kitty waren ihre Geschichten über die vielen Leute, die sie tagtäglich an den Rand des Wahnsinns trieben. Und Melanie und Conrad führten die Hitliste der verhassten Menschen an. Conrad hatte am selben Tag wie Kitty in der Firma angefangen, und sie hasste ihn fast so sehr wie Melanie. Beinahe jeden Tag kam sie mit einer Geschichte über eine neue, abscheuliche Verleumdung oder Beleidigung nach Hause. In drei Tagen fuhr sie mit zwei alten Freundinnen von der Uni nach Kroatien, und Hannah wusste, dass Kitty ihr fehlen würde.
Hannah aß schnell zu Abend und erlaubte sich eine Viertelstunde Pause mit Kitty und Hugh Grant, dann zog sie sich mit ihrem Laptop in ihr Schlafzimmer zurück. Nach Ludovic war sie dankbar gewesen, dass sie einen anspruchsvollen Job hatte und abends für die Prüfung in Finanzwirtschaft büffeln
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