Überraschung kommt selten allein
noch nach. Sie winkte verlegen und ging davon.
Ihr Wagen parkte in der Northumberland Avenue. Als sie die Tür aufschloss und einstieg, merkte sie, dass sie glücklich war. Sie war froh, dass sie sich bei Daniel entschuldigt hatte, und zufrieden, dass ihre kurze Bekanntschaft so harmonisch geendet hatte. Seine enthusiastische Beschreibung von Island hatte sie, wie der ferne Klang einer Trompete in der Finsternis, daran erinnert, dass es noch mehr im Leben gab als Tod und Depression und Zeitungsausschnitte. Und er hatte sie auf eine Art angesehen, die ihr das Gefühl gab, interessant und etwas Besonderes zu sein, statt hysterisch und verrückt, auch wenn es wahrscheinlich nichts bedeutete. Sie legte eine CD von Roxy Music ein und sang den ganzen Weg mit ihnen Lets Get Together .
11
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Der weite Ritt
A m Samstagabend kamen Lionel und Evie mit Geschenken für den unerschrockenen Reisenden beladen. Evie hatte für Jacob ein Moleskin-Buch, ein Glas Marmite und eine Brieftasche mit hundert Euro. Lionel schenkte ihm eine Tasche, die mit einem Kompass, Pfefferminzbonbons und einem Buch mit Kurzgeschichten von Maupassant gefüllt war. »Trag sie die ganze Zeit bei dir«, sagte er. »Es ist alles drin, was du brauchst, wenn du dich in einem französischen Wald verirrst.«
»Ich glaube nicht, dass es in Avignon französischen Wald gibt«, sagte Tony.
»Unsinn«, entgegnete Lionel, »natürlich gibt es in Avignon französische Wälder. Wo denn sonst?«
»Manchmal«, sagte Tony, »ist deine Logik sehr anstrengend.«
»Das liegt daran, dass ich ein Philosoph bin«, erklärte Lionel. »Dabei fällt mir ein, in zwei Wochen halte ich einen Vortrag über das Kausalitätsproblem bei Hume. Wir werden dich da vermissen, Jacob.«
Lionel war begeistertes Mitglied der Philosophischen Gesellschaft von Bath. Einmal im Monat traf sie sich und ermutigte ihre Mitglieder, Vorträge mit anschließender Diskussion zu halten. Zweimal im Jahr verbrachte Lionel Wochen damit, eine Rede aus abertausenden Worten vorzubereiten, die dann schonungslos von Evie zerpflückt wurde. Die ganze Familie nahm an diesen Ereignissen teil. Jacob erfreute seinen Großvater jedes Mal mit einer Verständnisfrage, die – in Albertas Augen – genauso unverständlich war wie der Vortrag, der ihr vorausging.
Beim Essen war Jacob, vielleicht von den hundert Euro inspiriert, ungewöhnlich großzügig und unterhielt seine Familie mit Geschichten über Mauds Tante. Sie war offensichtlich eine Frau mit Charakter. Ihr französischer Ehemann hatte erst kürzlich eine lange zurückliegende Affäre und die daraus resultierenden Konsequenzen gestanden: eine zwanzigjährige Tochter namens Marianne. Mauds Tante hatte ihrem Mann nicht nur verziehen, sondern dem Mädchen auch angeboten, im Hotel zu arbeiten, ein Akt der Großzügigkeit, der dazu führte, dass Gaston vor ihr auf die Knie fiel und ihr die Füße küsste. Was Gaston nicht wusste, erzählte Jacob, war, dass Mauds Tante einst eine Affäre mit seinem Bruder hatte und deswegen nur zu glücklich über die Beichte ihres Mannes war.
»Hat sie ihm erzählt, dass sie eine Affäre hatte?«, fragte Alberta.
»Wozu?«, sagte Jacob. »Ihr Mann glaubt, sie ist wunderbar, und er kommt weiterhin mit seinem Bruder klar. Warum sollte sie das alles zerstören?«
Tony hob eine Augenbraue. »Liebt sie den Bruder ihres Mannes immer noch?«
»Dad!« Jacob verzog das Gesicht. »Sie ist inzwischen echt alt. Sie muss mindestens fünfzig sein.«
»Richtig«, sagte Tony. »Niemand hat Affären, wenn er über fünfzig ist.«
»Also, ich finde solche Geheimnisse faszinierend«, sagte Evie. »Ich habe gerade ein Buch über das stalinistische Russland ausgelesen. Es ist sehr berührend. Es beschreibt die entsetzlichen Säuberungen, die Stalin gegen die Kulaken durchführen ließ.«
»Wer waren die Kulaken?«, fragte Tony.
»Ich glaube, am besten beschreibt man sie als ländliche Mittelklasse. Sie waren wohlhabende Kleinbauern, und Stalin wollte sie ausrotten. Tausende wurden umgebracht. Es gibt ein Mädchen in dem Buch, sie heißt Antonina Golovina. Ihr Vater wurde in den dreißiger Jahren als Kulak gebrandmarkt. Mit achtzehn fälschte sie sich neue Papiere und studierte Medizin. Sie erzählte niemandem die Wahrheit, nicht einmal dem Mann, den sie heiratete. Und dann, viele Jahre nach Stalins Tod, als Glasnost kam und die Menschen anfingen, über die Vergangenheit zu reden, fand sie heraus, dass sie seit mehr als zwei Jahrzehnten mit
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