Übersinnlich
vollendet, tauchte Blue aus dem Wasser auf. Vielleicht hatte sie mich aus der Ferne beobachtet und auf diesen Moment gewartet. Ungläubig blickte ich auf meine Meerjungfrau hinunter, als sie sich neben dem Felsen ausstreckte und ihren Körper vom Schaum der Gischt umspielen ließ, unberührt von der eisigen Kälte des Morgens. Zwischen den Wolken hervorblitzende Sonnenstrahlen leuchteten auf ihren silberweißen Schuppen. Wie immer hielt ich nach neugierigen Augen Ausschau, doch niemand war zu sehen. Ich war zum Außenseiter geworden. Zuviel Erfolg brachte Missgunst und Neid mit sich. Gerüchte, Getuschel und alberne Mutmaßungen, die darin endeten, dass niemand mehr mit mir redete. Ausgenommen die Händlerin, an die ich meine Fische verkaufte, und Paul, der sich an Einsilbigkeit und alberner Höflichkeit versuchte. MacDouglas hatte nach einem Saufgelage endgültig der Schlag getroffen, und nun gab es keinen Menschen mehr in meinem Leben, der mir etwas bedeutete. Ich trauerte ihnen nicht hinterher. Nicht mehr. Für Blue war es das Beste, wenn man mich mied.
„Sing es mir vor, Jack.“ Mein Fabelwesen lächelte zu mir auf. „Ich will es hören.“
„Also gut.“ Ich holte tief Atem, räusperte mich und versuchte mein Glück darin, eine Meerjungfrau zu verzaubern:
„Dein Anblick hält mich gefangen,
meine Sehnsucht ist unendlich.
Wie du mich rufst und für mich singst.
Wie du meine Seele berührst,
wenn Sonne und Mond auf deinen Wellen schimmern.
Oh, das Indigo in deinen Tiefen.
Du salziges, ewiges Blau.
Ich muss fort in das Meer.
Sehnsucht zieht mich hinaus,
wenn Wellenschaum meine Füße umspült.
Wenn die See mich ruft und lockt.
Mir sagt, dass ich nicht bin wie die Menschen.
Oh, das Indigo in deinen Tiefen.
Du salziges, ewiges Blau.
Nimm, Meer, mir die Beine,
denn sie zwingen mich an das Land.
Mein Leib und meine Seele für dich.
Ich muss fort in das Meer.“
Als ich schwieg, starrte Blue mich aus verzweifelten Augen an.
„Was ist mit dir?“, fragte ich erschreckt. „Warum siehst du mich so an?“
„Du weißt, was unsere Aufgabe ist.“ Die Flosse auf ihrem Rücken stellte sich auf, wie immer, wenn heftige Gefühle sie beutelten. „Du weißt, dass wir menschliche Seelen vor Sehnsucht krankmachen und sie damit umbringen.“
„Aber dieses Gefühl war schon immer in mir.“ Ich fühlte keine Angst. Nur Glück und die Gewissheit, dass wir beide unser Schicksal erfüllten. In Blue wuchs ein Wunder heran. Sie trug mein Kind unter ihrem Herzen. Etwas, das in ihrer Welt als unmöglich galt, weil es nie zuvor geschehen war.
„Während das Land noch völlig kahl und leblos war“, sagte ich zu ihr, „blühte im Meer schon seit Millionen von Jahren das Leben. Hier hat alles angefangen. Hier ist die Wiege von uns allen, und glücklich ist der, der wieder dorthin zurückkehren kann. Habe keine Angst. Alles wird gut.“
Sie lächelte schmerzlich und strich über ihren Bauch. Noch sah man nicht, dass Leben in ihr heranwuchs. Ein Leben, das Land und Meer in sich vereinte.
„Er wird uns irgendwann retten“, sagte sie. „Er wird unser Schicksal sein. Mein Volk ist schwach geworden und ängstlich. Lange vorbei sind die Zeiten, da wir die Meere beherrschten. Lange vorbei die Zeit, da wir mächtig waren. Aber er wird uns ein Stück dieser Macht zurückgeben.“
Ich schauderte. So viele Gefühle waren in mir. Viel zu viele, als dass ich sie hätte beherrschen können.
„Woher weißt du, dass es ein Junge wird?“
Sie blickte tadelnd zu mir auf. „Ihr Menschen spürt so wenig. Ich wusste es schon in der Nacht, als wir uns das erste Mal liebten. Ich wusste es, als es geschah.“
„Deswegen bist du zurückgekommen?“
„Deswegen, und weil ich dich liebe. Komm, nimm deine Spoot und folge mir.“ Blue tauchte mit spielerischem Lachen in den Wellen unter, und ich tat, was sie wollte. Um ihr näher zu sein, hatte ich mir ein kleines, elegantes Boot gebaut, versehen mit Rudern, um leise über das Wasser gleiten zu können, und einem Motor, um trotz der starken Strömungen wieder an Land zu kommen. Blue nannte es Spoot, nach den langen Muscheln, die es hier überall gab und deren Form dem Boot ähnelte.
Als ich die Brandung bewältigt hatte, schaltete ich den Motor aus und glitt lautlos auf einer Strömung dahin. Die Küste verschwand im Morgennebel, Skyes Klippen und Berge verhüllten sich mit einem bleichen Schleier. Wie gerne wäre ich einfach immer weitergetrieben. Weiter und weiter auf den
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