Übersinnlich
Isabella erst dann zeigen würde, wenn sie ein Alter erreicht hatte, in dem sie alles verstand. Vasterian hatte nicht vor, diese Regel zu brechen. Dennoch würde er von jetzt an wieder ihr Leibwächter sein, sie beschützen, wie er es früher getan hatte. Und diese Aufgabe erfüllte ihn mit Stolz. Endlich gab ihm das Schicksal eine zweite Chance. Die Chance, seinen Fehler zu korrigieren.
Vasterian übertrug alle Geschäfte seinem engen Vertrauten und Stellvertreter Antoine de Prusant, der sich trotz aller Speichelleckerei als loyal erwiesen hatte.
Die nächsten Jahre wären normalerweise schnell vergangen, doch in Isabellas Gegenwart wurden sie so bedeutsam, dass auch für ihn die Zeit plötzlich in anderen Bahnen verlief. Langsamer. Kleinigkeiten, die er sonst übersah oder die nicht in seiner Erinnerung haften blieben, wurden mit einem Mal wichtig.
Isabella wuchs heran, lernte laufen und sprechen. Es war ein Wunder, sie dabei zu beobachten, wie sie die Welt entdeckte. Vasterians Blut war derart mächtig, dass er es sogar wagen konnte, sich während des Tages im Schatten aufzuhalten. Die Strahlen der Sonne lösten einen schrecklichen Schmerz in seinem Körper aus, drangen selbst durch die Kleidung hindurch, und ließen seine Haut wie Feuer brennen, ohne dass sichtbare Spuren zurückblieben. Aber Vasterian ertrug diese Qualen, ohne zu klagen. Was er hier, im Garten von Remierre de Sagrais ohne dessen Wissen beobachtete, war ein kostbares Geschenk. Die Unschuld des kleinen Mädchens rührte ihn zutiefst und zum ersten Mal bedauerte er es, selbst nie Vater geworden zu sein, keine leiblichen Kinder zu haben. Er war jung zum Vampir gemacht worden und mit Pyrs Blut war ihm die Möglichkeit genommen worden, eine Familie zu gründen. Merkwürdigerweise hatte er darüber nie nachgedacht, doch nun, wenn er Joli, Remierre und Isabella zusah, wünschte er sich, Ähnliches zu erfahren, Teil einer solchen Einheit zu werden.
Gerade in diesem Moment, in dem Isabella stürzte, sich ein Knie aufschlug und so herzzerreißend weinte, dass es ihm in der Seele wehtat, wünschte er sich an Remierres Stelle, der das Mädchen behutsam aufhob und es tröstete. Ein wehmütiges Seufzen drang aus seiner Kehle. Ein Mensch hätte es niemals vernommen, doch ein Werwolf wie Remierre hatte feinere Sinne und so horchte er auf, übergab Isabella an Joli und streifte durch den Garten zu dem Baum, in dessen Schatten er sich versteckt hatte. Als der Werwolf ihn erreichte, verschmolz Vasterian mit dem Dunkeln. Es war seine Fähigkeit, eine einzigartige Gabe. Auch wenn er ihn selbst nicht wahrnehmen konnte, so wusste er, dass sein Geruch noch in der Luft haftete, und Vasterian sah, dass der Werwolf ihn aufnahm. Er knurrte, wie es nur ein Tier vermochte, dann nahm er seine Frau und sein Kind und verschwand mit ihnen im Haus. Offensichtlich empfand er den Vampirgeruch noch immer als Bedrohung, traute dem Frieden nicht. Doch Vasterian war es ernst. Er wollte nicht länger gegen die Werwölfe kämpfen.
Blutsklavin,
ISBN: 978-3-940235-84-8
Es war ein schöner Sommertag, den Isabella mit ihren Eltern und ihrer besten Freundin Anne am Grunewaldsee verbrachte. Mama hatte eine große Decke am Ufer ausgebreitet und ihren Picknickkorb darauf abgestellt, während Papa die Federballschläger auspackte. Isabella riss sie ihm gleich aus der Hand und rannte mit ihrer Freundin am Wasser entlang, denn sie konnte es nicht erwarten, endlich zu spielen.
„Rennt nicht zu weit weg“, hörte sie Papa hinter sich, und als sie sich umdrehte, sah sie ihre Eltern nur noch als kleine verschwommene Punkte.
„Meinst du nicht, wir sollten wieder umkehren?“, fragte Anne und blickte sich ängstlich um, als ein Strauch hinter ihnen raschelte. Wahrscheinlich war es aber bloß der Wind oder ein Tier.
„Nein, hier ist es genau richtig“, entschied Isabella nach kurzem Zögern. „Du hast den Aufschlag.“
Der Federball flog durch die Luft, weiter und immer weiter, doch Isabella traf ihn jedes Mal und schlug ihn mit aller Kraft, die in den Armen einer 10-Jährigen steckten, zurück. Aber dann geschah es. Sie verfehlte den Federball, der über ihren Kopf hinwegsauste und im Wasser landete, wo er an der Oberfläche schwamm. Beide Mädchen stellten sich dicht ans Ufer, sahen hilflos zu, wie der Ball abtrieb.
„So ein Mist. Was machen wir jetzt, Isa?“
„Ich hole ihn da raus.“
„Was?“
Schon zog Isabella ihre Turnschuhe aus. Sie hatte erst vor Kurzem ihren
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