Übersinnlich
Natur eines Fisches ist es, zu schwimmen“, hatte mein Vater gern gesagt. „Immer auf den Horizont zu. Bis es nicht mehr weitergeht. Und dann den ganzen Weg zurück.“
„Gib Laut, wenn’s nicht mehr geht.“ Paul knuffte meine Schulter, diesmal deutlich behutsamer. Über uns witterten die Möwen leichte Beute und versammelten sich zu einem kreischenden Schwarm. „Es ist okay. Du hast Schlimmes durchgemacht da draußen.“
Ich nickte, und mein Freund verschwand in den Schiffbauch, um vor dem Einholen des Netzes noch ein oder zwei Bierchen zu kippen. Seltsame Gefühle übermannten mich, als ich wieder in die dunkle Tiefe des Wassers hinabblickte. Ein Gefühl von Zauber, Geheimnis und Schicksal. Was lag dort unter der glänzenden Oberfläche? Wie viele der Sagen, die wir uns in den langen Wintermonaten erzählten, besaßen einen wahren Kern?
Ich sah auf die Wellen hinab, bis mir von der Tiefe schwindlig wurde. Sturmwolken jagten über den Himmel, fanden ihr Spiegelbild im Wasser. Und dann sah ich es. Etwas, das einer hellen Gestalt ähnelte, die unter dem Kutter vorbeihuschte. Das Aufblitzen eines Rätsels in der Tiefe, das wieder mit ihr verschmolz, ehe mein Verstand es begreifen konnte.
Sie wurde auf den Namen
Destiny
getauft. Schicksal.
Und mein Schicksal war es, dieses neue Schiff. Ein gebrauchter, vom salzigen Wind ausgebleichter, fünfzehn Meter langer Kutter. Mein Neuanfang oder mein Verderben. Mein Ruin oder meine Rettung. Ich würde es bald sehen. Perlen brachten längst nicht so viel ein, wie ich gedacht hatte, jedenfalls nicht dem armen Tropf, der sie beschaffte. Doch die Freundschaft zu Fischern, deren Gedeih und Verderb an denselben Fäden hing und die in schlechten Zeiten zusammenhielten, umso mehr. Zwei Jahre lang volle Netze, grob geschätzt, dann würde ich meine Schulden abbezahlt haben. Kein gutes Gefühl, mit einer solchen Last auf den Horizont zuzufahren, dem Willen des Meeres vollkommen ausgeliefert, das entweder gnädig war – oder mir den Todesstoß verpasste.
Pauls letzte Worte, die er mir zugerufen hatte, waren typisch für ihn gewesen: „Ich wünsche dir Netze, so prall wie der Hintern meiner Frau. Und immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel.“
Den Blick stur geradeaus gerichtet, lenkte ich mein Schicksal entlang der zerklüfteten Küste. Hin zu jenen Orten, an denen sich im Sommer die Hummer im flachen Wasser zwischen den Felsen tummelten. Unschuldig tanzten meine roten Bojen auf den Wellen, markierten den Standort der am Tag zuvor ausgebrachten Körbe. Ich betrachtete die im Hintergrund aufragenden, majestätischen Klippen, den Haken bereits in der Hand. Sie schienen die Bäuche der von rauen Böen gejagten Wolken zu berühren. Möwen und Sturmtaucher tanzten kreischend über meinem Kutter, wohl in der Hoffnung, etwas Fisch zu ergattern. Doch auf den würden sie noch warten müssen.
Während ich die erste Boje herausfischte und an der Kette zog, landete ein vorwitziger Fulmar auf der Reling und beäugte mich aus gierig funkelnden Knopfaugen. Sein stattlicher Leibesumfang verriet, dass er bereits genügend Futter ergattert hatte.
„Wünsch mir Glück, mein kleiner dicker Freund.“
Der Vogel breitete seine Schwingen aus und klappte sie wieder ein, was an ein menschliches Schulterzucken erinnerte. Enttäuschung befiel mich Augenblicke später. Selbst der Fulmar stieß ein unwirsches Kreischen aus und flog davon. Mein Korb war leer, die Köder unberührt. Auch im zweiten Behälter, den ich hochholte, sah es nicht besser aus. Im dritten befand sich ein Hummer, der aber deutlich unter der Mindestgröße lag und wieder im Wasser landete.
„Nichts … nichts … nichts.“
Auch die restlichen fünf Hoffnungen zerplatzten. Es war schwer, nicht in Selbstmitleid zu versinken. Wut gab mir mehr Kraft, also fluchte ich laut und derb vor mich hin, während ich das offene Meer ansteuerte und auf mehr Glück beim Fischen hoffte. Weit vor der Küste brachte ich mein Netz aus. Man sagte, der erste Fang entscheide darüber, ob der Segen der Meeresgötter über einem neuen Schiff läge oder nicht. Bisher schien es so, als hätten sie mein Schicksal eher mit einem Fluch belegt. Alles in mir war still während der Zeit, in der ich das Netz hinter mir herzog, allein meinem Gefühl vertrauend, denn für eines dieser neumodischen Echolot-Systeme, die einem die großen Schwärme zeigten, fehlten mir sowohl das Geld als auch das Verständnis. Wahre Seeleute lasen im Meer wie in einem Buch. Sie
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