Überwachtes Netz
Jahren keinen Mord mehr. Allen geht es »gut«. In Minority Report wird diese praktisch hundertprozentige Sicherheit vor Morden durch hundertprozentige Kontrolle der Bürger ermöglicht. Wenn man nur an einen Mord denkt oder im Affekt ein Verbrechen begehen will, wird man verurteilt. Das scheint wirklich sehr weit entfernt von unserer jetzigen Gesellschaft. Und doch ist es das gar nicht. Andrew Parker sagt ganz deutlich, dass sein Ziel für den MI5 möglichst vollständige Prävention von terroristischen Aktivitäten ist. Und dieses Ziel versucht er – ganz ähnlich zu Dicks Vision – durch vollständige Kontrolle jeglicher Kommunikation zu erlangen. Die zunächst freie Gesellschaft muss also – zu ihrem eigenen Wohl – kontrolliert werden, damit ihre Sicherheit besser gewährleistet werden kann. Anders als im Film geschieht diese Kontrolle nicht durch drei Frauen in Nährlösung und Holzkugeln, sondern durch all die Dinge, die Snowden in den letzten Monaten veröffentlicht hat: Globale Überwachung jeglicher Telekommunikation, Abspeicherung in riesigen Datenzentren und anschließende Analyse – all das mit dem Ziel, möglichst viel zu wissen.
Natürlich hat Parker im weiteren Verlauf der Rede immer wieder versucht, zu beteuern, dass weder MI5 noch GCHQ willkürlich die Gesellschaft beobachten und somit unter Generalverdacht stellen.
»Ich bin sehr froh, dass wir eine enorm rechenschaftspflichtige Behörde sind … Wir zeigen Beweismittel vor Gericht …”
Andrew Parker spricht hier zwar für den MI5, für die Tochter-Behörde GCHQ ist beides jedoch keineswegs der Fall. Erst eine Woche vor seiner Rede kamen Ben Scott und Stefan Heumann in ihrer Studie [67] zur rechtlichen Lage der US-amerikanischen, britischen und deutschen Geheimdienstgesetze zu dem Schluss, dass Großbritannien die schwächsten Kontrollmechanismen hat und den Geheimdiensten die größten Freiheiten einräumt. Zur umfassenden Überwachung der Telekommunikation benötigen die britischen Geheimdienste gerade keine richterliche Bevollmächtigung, sondern lediglich ein »Zertifikat« des Innenministers.
»Wir wollen nicht den alles durchdringenden, repressiven Überwachungsapparat … Die Realität der täglichen geheimdienstlichen Arbeit ist, dass wir unsere intensivste und aufdringlichste Aufmerksamkeit ausschließlich einer kleinen Zahl an Fällen zu jeder Zeit widmen. Die Herausforderung liegt darin, Entscheidungen zwischen mehreren konkurrierenden Anforderungen zu treffen, um uns die beste Chance zu geben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein um Terrorismus zu verhindern. Und lassen Sie mich das klarstellen – wir setzen Maßnahmen mit einem schweren Eingriff in die Privatsphäre nur bei Terroristen und jenen ein, die die Staatssicherheit gefährden. Das Getz verlangt, dass wir Informationen nur sammeln und auf diese zugreifen, wenn wir sie wirklich für unsere Arbeit benötigen, in diesem Falle zur Bekämpfung der Bedrohung durch Terrorismus.«
Das hört sich natürlich zunächst sehr beruhigend an. Selbst der Direktor des MI5 ist gegen allgegenwärtige und allmächtige Überwachung. MI5 agiert innerhalb der engen Schranken des Gesetzes. Wenn man sich jedoch die Frage stellt, wie MI5 und GCHQ überhaupt Terroristen identifizieren, ergibt sich ein anderes Bild: Um einen Terroristen zu verfolgen, muss man zunächst wissen, ob es sich um einen Terroristen handelt. Da jegliche Telekommunikation potenziell terroristischer Natur sein könnte, muss man – folgerichtig – auch jegliche Kommunikation überwachen. Da man zur Zeit zwar die Möglichkeiten hat, jegliche Kommunikation mitzuschneiden und zu speichern, die Analysemöglichkeiten und Algorithmen aber noch sehr limitiert sind – außerdem braucht es Zeit, um Verschlüsselungen zu knacken [68] – ging man in den letzten Jahren dazu über, alles in riesigen Datenzentren abzuspeichern [69] . Was in Parkers Rede als sehr bedacht, fokussiert und limitiert dargestellt wird, ist in Wahrheit viel näher an der ‘Gedankenkontrolle’, die in Dicks Kurzgeschichte Minority Report beschrieben wird: Wenn die Regierung die Kriterien für ‘Terrorismus’ festlegt und die Kommunikation ihrer Bürger über Jahrzehnte abspeichert, ist die Bevölkerung der Willkür zukünftiger Regierungen schutzlos ausgeliefert. Was heute noch legaler Protest ist, könnte in wenigen Jahren schon als terroristischer Akt begriffen werden. Und da alles festgehalten wurde und die jeweilige Regierung
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