Uferwald
übrigens«, fragte Kovacz, »Ihrem alten Kollegen Berndorf?«
»Wir haben ihn gestern zum Zug gebracht«, antwortete Kuttler. »Zum Zug nach Berlin.«
S ie sehen hier geradezu exemplarisch das Geworfen-Sein des Menschen«, sagte der Kustos des Kunstvereins und zeichnete mit der Hand die Konturen der Skulptur nach, die in einer Seitennische des Kunstvereins aufgestellt war. »Das ist ein Werk durchaus in der Tradition des Munchschen ›Schrei‹...«
Andreas Matthes betrachtete den Kustos und dann wieder die Skulptur. Der Kustos trug eine gepunktete Fliege zu einer karierten Weste und einem gestreiften Jackett. Die Plastik war aus Blechteilen gearbeitet, wie sie für Autokarosserien und Stoßstangen verwendet werden, gut anderthalb Meter hoch, und stand auf einem Holzsockel. Auf einem am Sockel angebrachten Plastikschild stand: »Alexander Keull: Traumtänzer, 1999«.
Matthes vermutete, dass das Material erst in einer Schrottpresseund dann mit einem Vorschlaghammer verformt worden war und danach bemalt. Wenn er ein oder zwei Schritte zurückging, erinnerte die Skulptur an ein Totem.
»Das ist gar nicht so falsch gesehen«, sagte der Kustos. »Diese Ulmer und oberschwäbischen Künstler, die wir versammelt haben, sind – wenn Sie so wollen – einem existenziellen Strukturalismus verpflichtet, sie brechen die Verkrustungen traditioneller Sichtweisen auf, um die ursprüngliche, die rohe Essenz der Wirklichkeit einzufangen... Hier!« Er deutete auf eine zweite Nische, in der Gemälde hingen, die ausnahmslos grau-grün gepunktete Strukturen zeigten. »Ein Beispiel für Systeme, die sich im Auge des Betrachters selbst organisieren...«
»Hören Sie nicht auf diesen Unsinn«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Matthes drehte sich um und sah einen Mann in einem blauen Overall vor sich, der noch größer war als er selbst, kräftig und mit einer lockigen schwarzen Mähne. »Die Leute reden zu viel. Wenn man es erklären könnte, müsste man’s nicht malen. Oder nicht modellieren.«
»Oh! Der Maestro persönlich!«, sagte der Kustos, »darf ich vorstellen – Alexander Keull – Herr Matthes, Referent des Herrn Oberbürgermeister.«
Die beiden Männer tauschten einen Händedruck. »Richten Sie Ihrem Chef aus«, meinte Keull, »es wäre das Beste, er erklärt den Leuten, sie sollen ihre Augen aufmachen und ihren Grips anstrengen, mehr sei nicht nötig...«
Matthes nahm seinen Notizblock. »Darf er Sie zitieren?«
K uttler bog am Willy-Brandt-Platz nicht nach rechts in die Innenstadt ab, sondern nach links in die Schwamberger Straße und parkte den Wagen dort vor einem Flachbau, neben einem Streifenwagen und zwei VW-Bussen der Polizei. Dann stieg er die kleine Treppe hoch, die zum polizeilichen Verkehrsdienst führte.
Schichtführer Grub er II war ein hoch aufgeschossener Mann,etwas vornüber gebeugt und mit einem Hang zur Melancholie. Kuttler nickte ihm zu und erklärte, wonach er suchte.
»Wann war das? 1. Januar 1999?«, fragte Gruber II zurück und holte einen Schlüsselbund aus seinem Schreibtisch. »Vielleicht hast du Glück, und die Akten sind noch da. Eigentlich müssten sie schon vernichtet sein.«
»Wieso eigentlich?«
»Datenschutz«, erklärte Gruber II und zuckte mit den Schultern. Damit war alles gesagt. »Datenschutz« war das Zauberwort, das alle Türen verschloss, wenn man davor stand.
»Ein Fall von Unfallflucht, sagst du?«
»Soviel ich weiß.«
Gruber II schloss die Tür zu einem schmalen Zimmer auf, das von einer Regalwand voller Aktenordner ausgefüllt schien, und ging suchend an ihr entlang.
»Gossler, Tilman«, sagte er plötzlich, »hier. Glück gehabt.« »Glück stelle ich mir anders vor«, meinte Kuttler und setzte sich mit dem Ordner an den Tisch vor dem einzigen Fenster.
D er Unfallbericht war eindeutig und ließ eigentlich nur eine Frage offen. In der Nacht zum 1. Januar 1999 war der 23jährige Tilman Gossler mit seinem Fahrrad auf der Uferstraße entlang der Donau in Richtung Thalfingen unterwegs. Gossler benutzte kein Mountainbike, sondern ein gewöhnliches Tourenrad mit einer Zwölf-Gang-Schaltung. Er trug keinen Schutzhelm, sondern nur eine Wollmütze, und er fuhr auch nicht auf dem gesonderten Fuß- und Radweg, der nach dem Ortsende Ulm nicht mehr asphaltiert ist, sondern auf der Straße. Zur Unfallzeit hatte er einen Blutalkoholgehalt von etwa 0,7 Promille. Eine geringe Konzentration von Tetrahydrocannabinol im Haar deutete daraufhin, dass er in der
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