Uferwald
aufmerksam, als müsse sie etwas fürs Leben lernen.
»Geht das eigentlich jeden Morgen so?«, fragte Isolde, als sie schließlich losfahren konnten.
»Eigentlich nicht«, antwortete Harald und ließ die Straßenbahn vorbei, die von der Messe kam. »Es ist nur, wenn du dabei bist. Johannes will mich dann ein bisschen vorführen...«
Die Antwort gab ihr einen kleinen Stich. Aber warum? Sie wusste es selbst nicht.
Die Hauptverkehrszeit war zwar schon vorbei, trotzdem wollte Harald nicht über das Blaubeurer Tor fahren. Seit ein schwedisches Möbelhaus dort eine Filiale eröffnet hatte, stauten sich die Autos mit den oberschwäbischen Kennzeichen, als sei der Dreißigjährige Krieg gerade eben durchgezogen und alle Häuser leer geplündert. So nahm er die Stuttgarter Straße, vorbei am Hauptfriedhof, um über die Nordumgehung zu fahren.
»Wer kümmert sich eigentlich um die Beerdigung?«, fragte Isolde unvermittelt.
»Offenbar hat sie da selbst schon vorgesorgt«, antworteteHarald. »Der Polizist sagte so etwas... Aber wenn du mich gerade fragst – sollten wir nicht zur Beerdigung? Oder wenigstens einen Kranz schicken?«
»Wird sie überhaupt beerdigt?«, fragte Isolde zurück. »Vielleicht wollte sie verbrannt werden.«
»Tilman hat ein Grab. Ich denke, dass sie da – egal. Eine Art Trauerfeier wird es so oder so geben.«
»Blumen ja«, sagte Isolde. »Aber kein Kranz. Und was sollte da auch drauf stehen? ›In Trauer – Tilmans Freunde?‹ Würdest du dich wirklich trauen, so etwas da hinzulegen?«
»Ich weiß nicht. Wenn du nicht willst, dann hat es sowieso keinen Sinn. Aber hingehen sollten wir.«
»Das glaube ich nicht, dass ich da hingehen will.« Plötzlich wurde ihre Stimme zornig. »Weshalb denn? Weil ich vielleicht ein schlechtes Gewissen habe? Warum sollte ich? Womöglich tauchen da Zeitungsleute auf und stellen Fragen. Eine alte Frau ist gestorben und liegt tot in ihrer Wohnung, und niemandem ist es aufgefallen – warum nicht? Warum Ihnen nicht? Waren Sie mit ihrem Sohn befreundet? Das alles könnten sie fragen, und das will ich mich nicht fragen lassen.«
Harald warf einen Blick zur Seite. Isolde sah starr geradeaus. »Weißt du was? Ich ruf mal die anderen an. Vielleicht können wir uns kurz treffen und absprechen...«
»Ohne mich.«
»Wie du meinst.« Er überlegte. »Wenn wir gerade dabei sind«, fuhr er nach einer Weile fort, »da ist noch etwas merkwürdig. Dieser Polizist wusste, dass du Isolde heißt. Hast du ihr mal geschrieben?«
»Nein, ich hab mal angerufen.«
»Und?«
»Nichts«, antwortete Isolde. »Es hat sich nur der Anrufbeantworter gemeldet.«
E s war kurz nach 9 Uhr, Manfred Czybilla legte das Handelsblatt zur Seite und schaltete auf seinem Computer den Nachrichtenkanal ein, der um die Zeit einen Korrespondentenbericht über den vorbörslichen Handel brachte. Der Nikkei-Index hatte schwach vorgelegt, der Dollar stand weiter unter Druck, die US-Handelsbilanz, nun ja! Gleich würde der alte Prälat Wildenrath anrufen und fragen, ob er Daimler-Chrysler zukaufen soll...
Im Kassenraum ratschten Susi und die Aushilfskraft von der Zentrale. Ein stämmiger, unterm Regenmantel schwitzender, rotgesichtiger Mann betrat den Schalterraum, eine altmodische Aktentasche unterm Arm, und sah sich suchend um. Czybilla rückte den Krawattenknoten zurecht und zog beim Aufstehen seine Hosen mit einer raschen Bewegung nach oben, so dass sein Bauch nicht allzu sehr heraushing. Er sollte öfter in die Sauna, dachte er noch, als er den Rotgesichtigen begrüßte und sich vorstellte.
»Zu Ihnen wollte ich«, sagte dieser, »es geht um...« Er suchte nach Worten.
»Um eine Beratung?«, fragte Czybilla hilfreich nach. »Vielleicht eine Geldanlage betreffend?«
»Ganz recht«, antwortete der Mann, »es ist so, man hat... also, man hat Sie mir empfohlen.«
Eine Kunde fürs rote Notizbuch? Czybilla geleitete den Besucher in den kleinen Besprechungsraum und half ihm aus dem Regenmantel. Dann bat er ihn, Platz zu nehmen. Zögernd setzte sich der Mann, noch immer die Aktentasche auf dem Schoß, als sei sie das Kind, das mit seinem Vater noch spät durch Nacht und Wind reitet. Er war Inhaber eines kleinen Meisterbetriebs für Sanitärinstallation und hatte seine geschäftlichen und privaten Konten bei einer Raiffeisenbank auf der Alb. Jetzt suchte er aber... Ja, was?
»Also, verstehen Sie, eine Anlage für privat, wie soll ich sagen? Ich kann doch vertraulich reden?«
Das rote Notizbuch.
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