Uferwald
Vergangenheit gelegentlich Haschisch konsumiert hatte. An seinem Fahrrad war der Dynamo an das Antriebsrad gedrückt, die Lichtanlage also eingeschaltet, und sie war auch nicht defekt.Nach Zeugenaussagen hatte Gossler kurz vor 3 Uhr das Lokal »Gluckskasten« verlassen. Von dort bis zur Unfallstelle braucht ein geübter Radfahrer nur wenige Minuten. Dies stimmte mit dem Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung überein, wonach sich der Unfall zwischen 2.30 und 3.30 Uhr ereignet hatte. Kurz nach 3 Uhr musste, so war aus den Unfallspuren zu schließen, ein ebenfalls Richtung Thalfingen fahrender Wagen das Fahrrad Gosslers mit hoher Geschwindigkeit erfasst haben. Gossler wurde von der Wucht des Aufpralls nach vorne über die Leitplanke und gegen einen Baum der bewaldeten Uferböschung geschleudert. Er war auf der Stelle tot.
Die Uferstraße ist in diesem Bereich gerade und übersichtlich. Vor der Unfallstelle gab es keine Bremsspuren, auch nicht danach. Am Tourenrad Gosslers wurden Lackanhaftungen sichergestellt, die nach dem Ergebnis der Untersuchung durch das Kriminaltechnische Labor des Landeskriminalamtes auf einen schwarzen Daimler hinwiesen. Nach Ansicht des von der Polizei zugezogenen Kfz-Gutachters musste das Fahrzeug des flüchtigen Fahrers vorne rechts beschädigt gewesen sein.
Alles klar, dachte Kuttler. Neujahrsnacht, der Fahrer betrunken, aber nach Hause in die Garage reicht es noch. Und dann? Man muss nur jemanden kennen, der jemanden kennt. Und irgendwann geht ein Transport von Gebrauchtwagen nach Osten, manche leicht beschädigt, darunter auch ein Daimler, und nur wer genau hinschaut, sieht: da war mal was. Und jetzt fährt ein gewendeter Politruk seine Wodka-Fahne damit spazieren...
Was für ein Stammtischklischee, rief Kuttler sich zur Ordnung und blätterte zu den Zeugenaussagen zurück. Dass Tilman Gossler das Lokal »GlucksKasten« kurz vor drei Uhr verlassen hatte, war übereinstimmend von einer Angelika Falter, die in dem Lokal als Aushilfskellnerin arbeitete, und einem Manfred Czybilla zu Protokoll gegeben worden.
Kuttler notierte sich die beiden Namen, schloss den Ordner und stellte ihn zurück.
»Hast du was gefunden«, fragte Gruber II, als Kuttler ihm den Schlüssel zum Archivraum brachte.
»Weiß nicht. Sag mal, da ist von einem Lokal ›GlucksKasten‹ die Rede – das muss wohl vor meiner Zeit gewesen sein...«
»Ach, das!«, sagte Gruber II, »das heißt schon lang nicht mehr so. Das ist das Eastside am Willy-Brandt-Platz, wurde vor zwei oder drei Jahren mal umgebaut. War vorher eine ziemliche Kaschemme, frag mal die Kollegen vom RD.«
Kuttler murmelte ein Dankeschön und ging.
Er war, was die Kollegen vom Rauschgift-Dezernat betraf, kein direkter Fan. Aber das musste Gruber II nicht unbedingt wissen.
W äre der Mann mit der ausgeprägten Stirnglatze und dem buschigen grauen Schnauzbart hinter der Theke eines der besseren Döner-Kebab-Läden der Stadt gestanden, so hätte dies niemanden gewundert. Er saß allerdings an einem Schreibtisch in einem Amtszimmer mit Blick auf spitzgieblige Dächer, sah Sitzungsvorlagen durch und hörte gleichzeitig dem Bericht zu, den ihm Andreas Matthes erstattete.
»Dass die Leute selber denken sollen, das gefällt mir, das nehmen wir«, unterbrach er Matthes. »Aber die andere Sache...« Er fuhr sich bedächtig über die Glatze, als korrigiere er den Sitz einer imaginären Frisur. Noch immer hielt er die Augen gesenkt. »Matthes – ein Komödiant kann einen Theologen abgeben und ein Theologe einen Komödianten. Steht bei Goethe. Aber der Oberbürgermeister soll nicht Pfarrer sein wollen. Die Leute haben ihn nicht gewählt, damit er ihnen predigt.«
Matthes betrachtete ihn, nicht eigentlich aufmerksam. Irgendwo hatte er einmal gelesen, die in Rätien stationierten römischen Legionen seien zumeist in Kleinasien und an der Levante rekrutiert worden, was in den ländlichen Gegenden Südbayerns und Oberschwabens heute noch manchen Männern anzusehen sei. Schließlich raffte er sich zu einem Widerspruchauf. »Aber das ist doch ein exemplarischer Fall von Vereinsamung, ein eminentes gesellschaftliches Problem...«
»Unsinn! Es ist ein exemplarischer Fall von Schlamperei der Heimstätten«, schnitt ihm der Oberbürgermeister das Wort ab. »Und ich mach Ihnen und den Heimstätten nicht den besinnlichen Dackel dazu. Sagen Sie denen Bescheid, dass sie der alten Frau wenigstens eine ordentliche Beerdigung ausrichten sollen!«
K uttler
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