Uferwald
Dümmste, was du je getan hast: Dich von Isolde nach Hause bringen zu lassen zur Alten Frau...
Exkurs über die Mumifikation
D as Telefon schlug an, Kuttler klappte den Band zu, stand mühsam auf und sah sich suchend um. Es dauerte eine Weile, bis er den Apparat hinter einem Umzugskarton mit seinen Wintersachen entdeckt hatte. Er meldete sich und hatte plötzlich – sehr nah und sehr scharf – die Stimme Kerstins im Ohr.
»Ich wollte dich fragen, wann du diesen Kühlschrank abholen kommst. Der passt hier nicht rein, und ich hab nicht die Zeit, ständig auf dich zu warten.«
Kuttler schüttelte den Kopf, als könne er sich so besser auf das neue Thema einstellen.
»Ich hole deinen Kühlschrank nicht ab«, sagte er schließlich. »Es ist deiner.«
Durch den Hörer kam zorniger Protest. »Was redest du da! Es war unser Kühlschrank, und ich sehe nicht ein, dass ständig ich alles aufräumen muss.«
»Es ist dein Kühlschrank«, beharrte Kuttler. »Du hast ihn dir ausgesucht. Du hast alle Möbel ausgesucht, die du mitnehmen wolltest, und dazu hat der Kühlschrank gehört.«
»Aus Mitleid!«, widersprach Kerstin. »Du hattest ja gar keine Wohnung, also musste ich ihn ja mitnehmen. Aber hier ist schon einer, ein sehr viel besseres Gerät übrigens, und es wäre jetzt wirklich nett, wenn du dieses alte Ding wegschaffen würdest, wir haben schließlich ausgemacht, dass wir die Trennung ganz einvernehmlich über die Bühne bringen, und jetzt willst du dich bei jeder Gelegenheit drücken...«
Kuttler nahm den Hörer vom Ohr und hielt ihn auf Armlänge von sich. Trotzdem war zu hören, dass der Redestrom weiter floss. Er betrachtete den Hörer und spürte, wie ein merkwürdiges Gefühl in ihm hochstieg, ein Gefühl, von dem er nur wusste, dass er es sehr schnell unter Kontrolle bringen musste.
Er zog den Hörer wieder zu sich her und unterbrach den Redefluss. »Ich geb eine Anzeige auf, Kühlschrank zu verschenken, mit deiner Telefonnummer, dann kannst du selbst mit den Leuten aushandeln, wann das Ding abgeholt wird.«
Damit legte Kuttler auf, packte das Telefon und steckte es in den Umzugskarton unter seinen Dufflecoat. Dann ging er zum Kühlschrank – zu seinem! –, holte sich ein Bier und nahm einen kräftigen Schluck. Er schaute auf das Tagebuch und schüttelte wiederum den Kopf. Er hatte ungefähr ein Drittel gelesen, aber wozu sollte es gut sein, dass er sich – auch noch außerdienstlich – mit Geschichten über irgendwelche fremden Nervensägen herumschlug? Nervensägen hatte er auch so genug am Hals.
Er schaltete wieder das Fernsehen ein, auf einem der Sportkanäle kam Sumo-Ringen, gerade recht zum Bier, dicke Männer, die sich aus dem Ring patschen, ein paar kräftige Ohrfeigen, ein Heber oder zack! ein elegantes Ausweichen – und dann war es das schon, nicht dieses grasharfenfeine Zirpen und Nerven und Krallen, monatelang! Eine reelle Sache, fand Kuttler und holte sich das dritte Bier, einer der Kämpfer hockte gerade nach siegreich überstandenem Patschen und Rempeln an seiner Ringseite und wartete auf die Belohnung, die Haartracht etwas in Unordnung geraten. Diese Zöpfe! dachte Kuttler und musste an den Menschen von heute Nachmittag denken – Zopf und Rucksack und Radlerhosen. Treutlein, Harald. Er überlegte, ob Treutlein in dem Tagebuch erwähnt wurde oder ob er womöglich schon von ihm gelesen hatte, und schob den Gedanken gleich wieder weg. Diese albernen Spitznamen wie Juffy oder Bilch oder Schleicher waren ihm von Anfang an auf den Geist gegangen, ein Kennzeichen von Cliquen, die damit ihren Langweilern, aus denen sie allesamt bestanden, ein buntes Mützchen aufsetzen.
Vermutlich Juffy. Schleicher konnte auch ein richtiger Name sein, und der Mann in den Radlerhosen sah nun wirklich nicht nach einem Bank-Kaufmann aus. Also hatte dann dieser Juffy die Isolde geheiratet. Egal. Kuttler entschied, den Fernseher auszuschalten, das vierte Bier nicht zu trinken und sich auf sein Feldbett zu legen. Er schlief wie ein Stein.
D ie Nacht hatte Regen gebracht, so dass Harald am Morgen den Volvo nahm und damit zuerst die Kinder in die Au brachte und dann Isolde, die an diesem Morgen ihre Klasse erst ab der zweiten Stunde übernehmen musste, in die Grundschule am Eselsberg.
Wieder einmal inszenierte Johannes die große Show, dass er nicht in den Kindergarten wolle und nie gewollt habe und lieber bei der Mutti bleibe. Und wie immer, wenn Johannes seine Show hatte, studierte Mona das Geschehen so
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