Uferwald
Antiquariat hinauf.
Es war noch früh am Morgen, und im Laden sah er noch keine Kunden. Ein Mann kam auf ihn zu, in dessen Gesicht die Jahre oder die Sorge, es werde bald niemand mehr ein Buch lesen wollen, tiefe Falten gekerbt hatten. Ob er behilflich sein könne?
»Ich suche eine junge Frau«, sagte Kuttler, »von der ich nur den Vornamen weiß: Solveig. Sie arbeitet nicht zufälligerweise bei Ihnen? Oder hat hier gearbeitet, vor sieben oder acht Jahren?«
Der Buchhändler, von dem Kuttler nur wusste, dass er mit Sicherheit nicht Schoepflin hieß, sah ihn an, nicht gerade Stirn runzelnd, aber doch etwas befremdet.
»Hat sie sich...«, setzte er zu einer Gegenfrage an. »Sie sind doch von der Polizei? Ich habe Sie schon mit Herrn Berndorf gesehen und der Frau Wegenast ...«
Kuttler, der es nicht leiden konnte, wenn man ihn nur als Begleitung von jemand anderem wahrnahm, fingerte wortlos seinenPolizeiausweis aus der Jacke und zeigte ihn dem Buchhändler. »Ich bräuchte nur eine Auskunft von ihr.«
»Also Solveig«, sagte der Buchhändler, »der Name ist ja so häufig nicht, und in der Tat, wir hatten einmal eine junge Frau hier, eine Aushilfe...« Er zögerte, als müsse er in seinem Gedächtnis eine halb verschüttete Erinnerung freilegen. »Eine sehr attraktive Person, das darf ich schon sagen.« Plötzlich lächelte er entschuldigend, als sei eine solche Feststellung in einer Buchhandlung eher fehl am Platz. »Aber es ist schon Jahre her... Warten Sie.« Er ging in den rückwärtigen Teil des Ladens und setzte sich hinter einen Schreibtisch, wo er eine Lesebrille aufsetzte und in einem Aktenordner zu suchen begann. Kuttler folgte ihm.
»Hier«, sagte der Buchhändler schließlich, »Solveig Wintergerst... Sie war von Mai 1998 bis Februar 1999 bei uns. Sie wurde nach Stunden bezahlt.«
»Sie ist also im Februar 1999 gegangen«, wiederholte Kuttler. »Gab es einen Grund dafür?«
Der Buchhändler blickte über seine Brille zu ihm hoch. »Ich glaube, sie hätte gerne mehr als nur ein paar Stunden gearbeitet. Aber sie hatte ja nicht einmal eine Buchhandelslehre.«
»Und wissen Sie, wohin sie dann gegangen ist?«
»Das ist ja schon eine ganze Weile her«, kam die Antwort, »aber mir ist es so, als wollte sie nach Frankreich, nach Paris...«
Einige Minuten später trat Kuttler wieder in den Regen hinaus. Solveig Wintergerst war 1972 in Freiburg geboren, war also drei Jahre älter als Tilman Gossler. Sie hatte in Thalfingen gewohnt, und einen Monat nach Tilmans Tod war sie weggegangen, nach Frankreich.
Was bedeutete das? Kuttler wusste es nicht. Er wusste nicht einmal genau, warum er bei dem Buchhändler das Stück »Kommen. Gehen. Schweigen« bestellt hatte. Ein kleiner Schweizer Verlag hatte es tatsächlich in seinem Programm. Aber er würde es erst morgen bekommen.
P farrer Johannes Rübsam war ein knapp mittelgroßer Mann, die Haare schon grau durchwirkt, und er begrüßte Luzie mit einer heiteren Gelassenheit, als gebe es nur wenig auf dieser Welt, das sich nicht auf die eine oder andere Weise aufräumen ließe. Sein Büro war so voll gestellt mit Büchern und Zettelkästen, dass sie sich fast beengt fühlte. Vor seinem Schreibtisch stand ein altmodischer Sessel, auf dem ein Stapel Zeitschriften lag. Er nahm den Stapel und legte ihn neben den Schreibtisch auf den Boden, dann bat er sie, Platz zu nehmen.
Während sie sich setzte, überlegte Luzie, ob es Rübsam gewesen war, der Tilman beerdigt hatte. Sie konnte sich nur an Schneeregen und Kälte erinnern und daran, dass sie hatte heulen müssen, dabei war sie mit Til so innig nicht gewesen, wirklich nicht.
»Sie kommen wegen einer Trauerfeier?«
Luzie sagte, was zu sagen war: Gossler, Charlotte, erst nach Monaten tot in der Wohnung aufgefunden, große Betroffenheit, Gemeinnützige Heimstätten, angemessene Trauerfeier...
»Verstehen Sie, wir sind zwar die Vermieter, aber wir können über einen solchen...« – sie suchte nach einem Wort, fand aber keines und hatte einfach keine Lust, »tragisch« zu sagen – »über eine solch traurige Sache nicht einfach hinweggehen und so tun, als gehe es uns nichts an.«
Rübsams Gesicht hatte sich verändert. Die heitere Gelassenheit war verschwunden.
»Frau Gossler hat vor einigen Jahren ihren Sohn verloren, nicht wahr?«, sagte er unvermittelt. »Ich erinnere mich. Ich habe den Sohn beerdigt. Und ich habe versucht, mit ihr Kontakt zu halten. Aber...« Er brach mitten im Satz ab. Luzie wartete.
»Wenn
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