Uferwald
ich Sie recht verstehe«, fuhr er schließlich fort, »wollen Sie eine Trauerfeier ausrichten, die über das hinausgeht, was die Verstorbene mit dem Bestattungsunternehmen vereinbart hat? Das ist ein wenig heikel.«
So könne man das nicht ausdrücken, wollte Luzie widersprechen, ließ es dann aber bleiben.
»Und Sie wollen dies sozusagen als Vermieter tun, der sich in irgendeiner Weise verantwortlich fühlt? Ja, wofür eigentlich?«
Ja, wofür eigentlich? Es half nichts, dachte Luzie, ich muss ihm reinen Wein einschenken. »Uns ist mitgeteilt worden, schon vor Wochen, dass mit der Frau Gossler etwas nicht stimmt. Aber ein Sachbearbeiter hat diese Mitteilung...« Ja, was? »Er hat sie ganz einfach verschlampt, auf seinem Schreibtisch liegen gelassen, und deshalb sind wir in der Pflicht, etwas zu tun.«
»Ja«, sagt Rübsam langsam, »so etwas kommt vor. Dass man sich um jemanden kümmern sollte, und dann geht es nicht, aus irgendeinem Grund. Trotzdem weiß ich nicht, ob ich mich so einfach über den Willen der Toten hinwegsetzen kann.«
Luzie sah ihn an. Er musste um einiges älter sein als sie. Ein alter Bedenkenträger. Hätte seine Kirche sich besser um die alte Frau gekümmert... Aber das half ihr jetzt auch nicht weiter.
»Hören Sie«, sagte sie entschlossen, »ich bin auch aus einem persönlichen Grund hier. Ich kannte Tilman Gossler, und wenn es Ihnen nicht genügt, dass die Heimstätten eine Trauerfeier ausrichten wollen, so möchte ich es tun, und zwar im Namen der Freunde von Tilman ...«
D ie Siedlung Buchenbronn liegt auf einer westlichen Anhöhe über der Stadt und wird mit einer hohen Lärmschutzwand aus Betonfertigteilen gegen den Autobahnzubringer abgeschirmt, was der Siedlung ein wenig den Charakter einer ummauerten und dem Mittelalter nachempfundenen eigenen Stadt gibt. Verstärkt wird das durch die Aufteilung in enge, abwechselnd von Reihenhäusern und vereinzelten mehrgeschossigen Blocks gesäumte Gassen und Plätze: Hochwertiges Wohnen in urbanem Ambiente hieß das in der Sprache der Städteplaner, als sie das Projekt im Gemeinderat vorstellten und von einem attraktiven Angebot für junge Familien und Singles schwärmten. Vor zehn Jahren war das gewesen.
Der Mann, den alle Brötchen nannten – freilich nur dann, wenn er selbst es nicht hören konnte –, Brötchen also stand am Fenster und sah in den Vormittag hinaus. Das Fenster hatte einen Kunststoffrahmen, dessen Deckleisten sich an den Rändern abzulösen begannen. Der Regen hatte aufgehört, und unten auf der Gasse trieb der Wind eine halb zerrissene Zeitungsseite vor sich her, zur Einfahrt des Parkdecks und wieder zurück, die Zeitung flatterte über den Flaschenhals, der mitten auf der Gasse lag, geriet auf die Seite der Reihenhäuser und verfing sich dort an einer der Eingangsstufen. Brötchen überlegte sich, was geschehen müsse, damit die Zeitung wieder Fahrt aufnehmen würde. Wenn der Wind auffrischte, könnte es sein, dass das Papier nur fester gegen die Stufe gepresst würde. Also müsste der Wind einen Augenblick Ruhe geben und dann wieder loslegen.
»Lies das mal«, sagte Wanja hinter ihm.
Brötchen blieb am Fenster stehen. »Lies es vor.«
Wanja lachte. »Du kannst die Schrift nicht lesen. Wird allmählich Zeit, dass du’s lernst. Wir sind hier nicht in Russland!« Er beugte sich auf der Ledercouch vor, um den Teletext auf dem Bildschirm besser sehen zu können. »Nach dem Raubüberfall auf die Filiale der Gewerbebank in Ochsenhausen, bei der bisher unbekannte Täter über zwanzigtausend Euro erbeutet haben, hat jetzt die Polizeidirektion Ravensburg eine Sonderkommission eingerichtet. Es seien bisher zahlreiche Hinweise eingegangen, erklärte ein Sprecher der Polizei, aber eine heiße Spur habe man noch nicht.«
»Und?«, fragte Brötchen. Die zerrissene Zeitung war nicht mehr zu sehen, so sehr drückte sie der Wind hinter der Stufe zusammen.
»Das waren gerade mal siebzehntausend und ein paar Zerquetschte«, sagte Wanja. »Wir haben es beide gezählt. Was soll der Scheiß, den die da erzählen?«
»Sie wollen uns zeigen, dass wir Dummköpfe sind«, antwortete Brötchen. »Sie haben den Rest für sich eingesteckt.«
»Du hast denen den Rest vom Geld gelassen?«
»Ganz sicher nicht. Vielleicht haben sie es sich vorher zur Seite gelegt. Was weiß ich! Vielleicht fehlt es ihnen schon die ganze Zeit, und jetzt können sie es uns in die Schuhe schieben.«
»Wie kann man wem was in die Schuhe schieben, was nicht
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