Uferwald
Der Vater war Anwalt und hatte ein ganzes Imperium von Finanzierungsgesellschaften aufgezogen.«
»Und dann?«
»Dann war plötzlich alles futsch, und der Dr. Wintergerst hat sich unter Hinterlassung eines Schuldenbergs in Höhe von einigen Millionen nach Südafrika abgesetzt. Die Frau ließ sich schleunigst scheiden, und Solveig ging von der Schule oder wurde von der Schule genommen und war seither, wie ihre Mutter behauptet, nie wieder in Freiburg.«
Tamar runzelte die Stirn. In Tilmans Tagebuch... ach, Unsinn! Tilman hatte man vermutlich viel erzählen können. »Weiß die Mutter, wie Solveig sich durchgeschlagen hat?«
»Angeblich weiß sie nicht einmal, dass sie eine Zeitlang in Ulm gelebt hat oder in diesem Dorf bei Ulm«, sagte die Kollegin. »Die Mutter hat sich in eine zweite Ehe mit einem Zahnarzt gerettet und will am liebsten von allem, was vorher war, nichts mehr wissen. Erst nach längerem Nachfragen ist ihr eingefallen, dass ihre Tochter vor ein paar Jahren eine Geburtsurkunde zugeschickt haben wollte, postlagernd, nach Paris, XVIII. Arrondissement.«
»Und die Mutter hat nie versucht, Kontakt aufzunehmen?«
»Sie sagt, ihre Tochter hätte es nicht gewollt. Das sei ihr schon daraus deutlich geworden, dass Solveig die Urkunde postlagernd zugestellt haben wollte.«
»Weiß die Mutter noch, wann genau das war?«
»Sie sagte, das sei vor ein paar Jahren gewesen«, antwortete die Kollegin. »Und den Einlieferungsschein hat sie angeblich nicht aufgehoben. Das Einzige, was ich von ihr bekommen habe, sind ein paar Fotos, die Solveig als junges Mädchen zeigen. Du solltest sie morgen haben, und du wirst dich wundern. Sie ist oder war ein ungewöhnlich hübsches Mädchen.«
»Was ist mit dem Vater?«
»Der ist vor ein paar Jahren an die Bundesrepublik ausgeliefert worden und wurde hier vor dem Landgericht zu knackigen zwölf Jahren verurteilt. Er sitzt in Bruchsal ein und hat noch mindestens zwei Jahre, bis er wieder draußen ist.«
Tamar bedankte sich und legte auf. Es war dunkel geworden, und sie schaltete die Schreibtischlampe ein. Ein ungewöhnlich hübsches Mädchen, sagte die Kollegin, und die Kollegin war eine Hetero. Was war Tilman? Das konnte wohl niemand so genau sagen. Aber auch er war hin und weg gewesen. Langsam, widerstrebend begann Tamar sich ein Bild von der jungen Frau zu machen, die aus dem Schneetreiben in Tilmans Tagebuch getreten war.
Dann schüttelte sie den Kopf, griff zum Hörer und wählte noch einmal die Augsburger Nummer. Diesmal wurde fast sofort abgenommen, es meldete sich eine Gottlinde Elvenspoek,und ihre Stimme klang angenehm bayerisch gefärbt, ganz anders, als der norddeutsch anmutende Nachname es hätte erwarten lassen.
Tamar erklärte, wer sie war und was ihr Anliegen sei. Dass sie sich für eine Mieterin der verstorbenen Konsistorialrätin Stocketsrieder interessiere, eine junge Frau, Solveig Wintergerst, und besonders für die Umstände, unter denen die Wohnung seinerzeit gekündigt worden sei.
»Die Wohnung hat meiner Mutter gehört«, antwortete Gott- linde Elvenspoek. »Aber ich fürchte, wir haben da überhaupt keine Unterlagen mehr, auch der Name, den Sie genannt haben, sagt mir nichts. Einen Augenblick hatte ich gedacht oder fast gehofft, Sie würden sich nach jemand anderem erkundigen wollen.«
Tamar hob die Augenbrauen. »Und wer wäre das?«
»Es gehört sich eigentlich nicht«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung, »ich will auch niemanden bloßstellen, aber in ihren letzten Jahren hatte meine Mutter die Verwaltung ihrer Vermögenswerte in Hände gelegt, über die meine beiden Brüder und ich im Nachhinein nicht sehr glücklich sind. Auch die Wohnung, von der Sie sprechen, ist dieser Seite anvertraut gewesen.«
»Sie haben Strafanzeige erstattet?«
»Nein, das hätte wohl nicht viel gebracht«, kam die Antwort. »Es war dann ja noch einiges da, und vermutlich ist auch nichts im eigentlichen Sinn veruntreut worden. Einige Dispositionen sind wohl nicht sehr glücklich gewesen, auch die Vermietung dieser Wohnung hat angeblich fast gar nichts eingebracht, aber einen Anwalt braucht das nicht zu stören, er darf trotzdem seine Kosten geltend machen.«
»Ein Anwalt?«, fragte Tamar nach.
»Ja, der Rechtsanwalt Dannecker«, sagte die Stimme, »kennen Sie ihn? Sie rufen doch aus Ulm an... Er war der Sohn eines Studienfreundes unseres Vaters, und wohl deshalb hat ihn meine Mutter mit ihrer Vermögensverwaltung betraut, aber ichsagte Ihnen ja schon,
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