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Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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unverwechselbaren Geruch des altmodischen Wohnzimmers seiner Großeltern, das nur für die Festtage oder bei besonderem Besuch genutzt wurde. Auf der Konsole des Büfetts dort stand in schwarzem Rahmen und mit einem Trauerflor das Foto seines Großonkels – des Bruders seines Großvaters –, der 1944 inRussland umgekommen war. Das Foto zeigte einen jungen Mann in Wehrmachtsuniform, mit dunklen Augen und einem für einen Bauernsohn untypisch schmalen Gesicht. Markus Kuttler erinnerte sich, dass er diese Fotografie nie anders hatte ansehen können als mit dem Gefühl, sie selbst sei bereits die Nachricht gewesen, die Urgroßeltern hätten das Bild beim Fotografen abgeholt und da schon gewusst, ja, so ist das, der kommt nicht zurück.
    Verglichen damit verbot sich eigentlich die Frage, ob den Fotos von Tilman Gossler etwas Vergleichbares anzusehen war – eine Vorahnung, eine Art Zeichnung vielleicht. Kuttler nahm an, dass er – hätte er Tilman kennen gelernt – ihn für ziemlich dumm und ziemlich arrogant gehalten hätte. Ein etwas zu glattes, zu verschlossenes Gesicht, ein Mensch, dessen Haltung vermutlich zum Ausdruck bringen sollte, dass er ein paar Bücher mehr gelesen hatte als die anderen (und vermutlich, ganz sicher, mehr als Kuttler selbst). Ja, und? Wäre einer gekommen und hätte nur ein wenig an der glatten Oberfläche gekratzt, es wäre das platte jämmerliche Nichts zum Vorschein gekommen, ein gnadenlos in den Sand gesetztes Studium, eine Nesthocker-Existenz. Manchmal im Sommer konnte man jungen, dicken, wohlgenährten Spatzen zusehen, wie sie Flügel schlagend und mit aufgesperrtem Schnabel ihren staubigen mageren Eltern hinterherbettelten und nicht von ihnen abließen...
    Nein, dachte Kuttler, mit den Flügeln hat er ja gerade nicht geschlagen, es war ihm peinlich, wenn ihm die Alte etwas zugesteckt hat, aber auch das war – genau besehen – nur Pose gewesen, genommen hat er das Geld dann doch... Am lächerlichsten schließlich seine erotischen Tast- und Gehversuche, dieses prekäre halbherzige Wollen und Nichts-zuwege-Bringen, eine männliche Jungfrau, schon weit über das Alter hinaus, in dem man das noch sein sollte, und sich vermutlich nicht einmal im Klaren darüber, welches Ufer sie ansteuern soll, um sich vom Makel der Jungfräulichkeit zu befreien.
    Kuttler blätterte durch das Album, ein verblasstes Farbfoto zeigte eine Gruppe junger Leute in einem Biergarten, Karten spielend. Im Profil Tilman, langhaarig und spitznasig, mit drei Mädchen, eine von ihnen, Tilman gegenübersitzend, war deutlich größer als er, ein stämmiges Weib, Luzie Haltermann in voller praller Wucht, was wollte diese halbe Portion Tilman damit! Karten spielen, was sonst, Canasta am Sonntagnachmittag, nein, nicht Canasta, es gab keinen Talon, es war Skat, eines der Mädchen hatte keine Karten in der Hand, sie war kurzhaarig und zeigte ein ziemlich großzügiges Dekolleté, vermutlich hatte sie gerade gegeben oder kiebitzte nur. Es war ein ausgesprochen hübsches Mädchen, dachte Kuttler, er kannte sie übrigens, es war Puck, und irgendwie war auch Isolde da, vermutlich war sie das, denn sie war nur von hinten zu sehen, aber ihre Haltung oder genauer: ihre Unauffälligkeit, die so demonstrativ war, dass sogar die Kamera nicht anders konnte, als sie fast zu übersehen... das musste Isolde sein.
    Kuttler blätterte weiter. Zwei junge Männer bei einer Partie Schach, ein dicker Kopf mit strähnigem, dunklem Haar – Juffy Treutlein? Ja doch, dachte Kuttler – ratlos über der Stellung brütend, Tilman zurückgelehnt, die Augenbrauen leicht angehoben, als wolle er sagen, was gibt es da zu brüten? Gib auf, Junge, Matt auf g7 in vier Zügen...
    Kuttler spürte eine Gereiztheit in sich aufsteigen, die er sich nicht weiter zu erklären brauchte. Er schlug die Seite um und sah vor sich die Farbaufnahme einer grauen, von Rissen und Vorsprüngen durchzogenen Felswand, die sich über einem Quelltopf erhob und in deren Schrunden sich herbstbunte Bäume und Sträucher festgekrallt hatten. Unmittelbar unter dem Felsen, dort, wo der unterirdische Quelltrichter sein musste, schimmerte das Wasser blaugrün, weiter vorne spielte es ins Hellgrün der Wasserpflanzen. An der steinernen Einfassung hockten vier oder fünf junge Leute, grundlos lachte Juffy in die Kamera, Luzie hatte die Beine untergeschlagen und saß sehr aufrecht neben einem zweiten jungen Mann, der ein volles Gesicht hatte und aufeine etwas schläfrige Weise hübsch war,

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