Uferwald
hoch, die zu den Räumen des Dezernats I – Kapitalverbrechen und Brandstiftungen – führte. Noch immer war sie sich nicht ganz sicher, worauf sie sich mit dem Fall Tilman Gossler eingelassen hatte, oder sollte sie besser sagen: mit Kuttlers Fall? Ein junger Mann will Kontakt zu einem Polizisten aufnehmen, einer Information wegen, die er von einer jungen Frau hat. Aber bevor er das tun kann, verunglückt er auf der Fahrt zu eben diesem Mädchen, die einen Monat später bereits die Stadt verlässt, und noch einige Monate später wird der Rollstuhlfahrer, auf dessen Schmerzensgeldansprüche sich jene dubiose Information bezog, in der Herbstkälte vergessen und stirbt an einer Lungenentzündung. Soll sie da wirklich mit den Achseln zucken und sagen, tut uns Leid, aber das alles kann auch Zufall sein?
In ihrem Büro blinkte ihr der Anrufbeantworter entgegen, und auf ihrem Schreibtisch lag ein dickes Kuvert. Schon an der Tür erkannte sie den angehefteten Begleitzettel mit dem in grüner Tinte geschriebenen Vermerk. Sie schnitt eine Grimasse, was war das nun wieder!
Sie drückte auf die Abspieltaste des Anrufbeantworters.
»Ja, Grüß Gott, hier ist PHM Kubiczek von der Polizei-InspektionNeu-Ulm«, dröhnte eine volltönende Stimme durch Tamars Büro, »Sie hatten um Auskunft über eine Wintergerst Solveig gebeten, wohnhaft vom 1. Oktober 1997 bis 31. Januar 1999 in Thalfingen, Ulmenhag 7. Also hierorts ist nichts bekannt über sie, und die Rückfrage bei der Hausverwaltung, das ist eine Günzburger Firma, hat ebenfalls nichts ergeben. Wohnungseigentümerin war eine... Moment« – offenbar zog Kubiczek seine Notizen zu Rate – »... also vermietet hat die Wohnung eine Frau Konsistorialrat Stocketsrieder aus München, die ist aber verstorben, und jetzt weiß ich nicht, ob ich die jetzigen Wohnungseigentümer befragen soll...«
»Ja doch!«, murmelte Tamar ärgerlich und notierte sich die Nummer der Hausverwaltung, die ihr Kubiczek – wenigstens das! – mit durchgegeben hatte. Sie wählte die Nummer, und während sie wartete, sah sie sich nun doch das Kuvert näher an und den Begleitzettel, auf dem in der sehr kleinen, adretten Handschrift des Kriminalrats stand:
»Da müssen Sie viel Geduld haben und sehr laut und deutlich sprechen. Gruß! E.«
Mit einer Hand zog sie den Packen Papier aus dem Kuvert, dann meldete sich die Hausverwaltung, und Tamar bat um Adresse und Telefonnummer des jetzigen Eigentümers der Wohnung, die zuvor der Münchner Konsistorialrätin gehört hatte. Wie sich herausstellte, war der jetzige Eigentümer eine Erbengemeinschaft, für die eine Gottlinde Elvenspoek aus Augsburg als Ansprechpartnerin auftrat. Tamar ließ sich die Nummer geben, aber bei Frau Elvenspoek war belegt, und so blätterte die Kommissarin den Packen Papier durch, der sich als die Satzung des gemeinnützigen Trägervereins für das Heim Zuflucht herausstellte. Der Trägerverein war Ende der sechziger Jahre gegründet worden, mit der erklärten und edlen Absicht, sich der Gestrauchelten, Gedemütigten und Entrechteten anzunehmen. Einige der Gründungsmitglieder waren selbst Tamar ein Begriff, obwohl sie erst vor nicht einmal zehn Jahren nach Ulm gekommen war. Ein pensionierter Landgerichtsdirektor war darunter,ein früherer Leitender Oberstaatsanwalt, ein heute steinalter Rechtsanwalt, der ab und an noch immer vor Gericht auftrat. Übrigens hatte sich die Zusammensetzung von Vorstand und Aufsichtsrat seit der Gründung nur unwesentlich geändert, neu war eigentlich nur der derzeit geschäftsführende Vorsitzende des Trägervereins, zugleich dessen Justiziar.
Tamar überlegte, wie alt jemand sein musste, um Landgerichtsdirektor oder Leitender Oberstaatsanwalt zu werden, und wie alt der Betreffende dann wohl heute sein würde, gut vierzig Jahre später. Dann schlug das Telefon an, und es meldete sich die Freiburger Kollegin, die sie am Vormittag um Informationen über Solveig Wintergerst gebeten hatte.
»Das ist eine merkwürdige junge Frau, weißt du das?«, sagte die Kollegin.
Tamar bleckte kurz die Zähne, weil sie es hasste, wenn es jemand spannend machen wollte.
»Das hab ich mir fast gedacht«, antwortete sie.
»Solveig ist hier geboren, in sehr gehobenem bürgerlichem Milieu aufgewachsen und hier auch zur Schule gegangen, bis zur elften Gymnasialklasse...«
»’tschuldige«, sagte Tamar. »Was ist ein sehr gehobenes bürgerliches Milieu?«
»Die Leute waren stinkreich«, kam die Antwort. »Oder taten so.
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