Uferwald
Ich weiß nur noch, dass ich an ihm vorbeikam und dass er mir den Rücken zugekehrt hatte.«
»Und davor war nichts?«, fragte Kuttler. »Kein Streit? Auch kein Spiel, über das man sich hätte in die Haare geraten können? Kein Bleigießen oder Kartenlegen?«
Matthes schüttelte den Kopf.
»Hat man sich nicht darüber unterhalten, was das neue Jahr bringt, ob die Clique sich auch nächstes Silvester noch treffen wird?« Kuttler versuchte ein zaghaftes Lächeln. »Und ob dann noch alle dabei sein werden?«
Matthes hob beide Hände. »Kann sein. Möglich. Aber wenn ich mich recht erinnere, hat mich vor allem der Gedanke beschäftigt, dass jedenfalls ich mir ein solches Silvester nicht wieder antun werde. Und jetzt wollen Sie mich bitte entschuldigen. Ich denke, dass ich Ihre Fragen ohne Umschweife beantwortet habe, und das habe ich schon allein deshalb getan, weil mein nächster Termin wartet. Im Kunstverein eröffnet mein oberster Dienstherr eine Ausstellung zeitgenössischer oberschwäbischer Kunst, wirklich interessante Sachen, und ich sollte dabei sein.«
Kuttler antwortete höflich, er habe keine weiteren Fragen und bedanke sich für Matthes’ Auskünfte, die er selbstverständlich als vertraulich ansehe. Doch Matthes schüttelte nur den Kopf, als wolle er sagen, dass es nichts gebe, was er vertraulich zu behandeln bitte.
»Diese Ausstellung«, fragte Kuttler, als er den Besucher zur Tür brachte, »geht es da um so eine Art Heimatkunst, mundgeschnitzte Madonnen und Rehe im Abendlicht?«
»Durchaus nicht«, antwortete Matthes, »da sind ganz kühne Sachen dabei, von Minimal Art bis zu Art brut oder Plastiken aus Autoschrott, wie es dieser Alexander Keull macht, schauen Sie es sich ruhig mal an.«
Damit verabschiedete er sich. Kuttler ging noch einmal zum Schreibtisch und sah die wenigen Notizen durch, die er sich von dem Gespräch gemacht hatte. Irgendetwas fehlte noch. Er nahm den Kugelschreiber und trug den Namen nach, der ihm zwischen Tür und Angel zugelaufen war.
D as Licht der Schreibtischlampe fiel auf eine schlichte Ledermappe und auf die von Luzie Haltermann am Nachmittag verfasste Aktennotiz. Der Mann hinter dem Schreibtisch hatte ergrautes, onduliertes Haar und zog mit dem dicken Zeigefinger einer dicken manikürten Hand die Zeilen nach, die er gerade las.
»Das wirft leider, liebe Frau Haltermann, mehr Fragen auf, als es beantwortet«, sagte der Mann, der derzeit der einzige amtierende Geschäftsführer der Gemeinnützigen Heimstätten war und inzwischen von einer Tagung der Katholischen Akademie zurückgekehrt.
»Das verstehe ich zwar nicht«, antwortete Luzie Haltermann, »aber ich will gerne alles beantworten.«
»Ich habe noch immer nicht verstanden«, sagte der Geschäftsführer, »auf Grund welcher Befugnis Sie den Schreibtisch der Kollegin Fudel durchsucht haben? Selbst wenn Sie eine Polizistin wären, könnten Sie das nicht tun ohne Anordnung von oben. Dabei sind wir hier gar nicht bei der Polizei.«
»Ich musste wissen, was mit dieser Frau Gossler war«, antwortete Luzie. Warum nur klingt das so dünn, dachte sie, als sie es gesagt hatte. »Das ist diese Frau, die tot...«
»Das ist jetzt eine völlig andere Geschichte«, unterbrach sie der Geschäftsführer. »Da gibt es auch noch einiges zu fragen.« Er hob die Aktennotiz hoch und holte eine Abrechnung. »Einiges. Aber das später. Ich möchte wissen, warum der Schreibtisch...«
»Weil mir gesagt worden war, dass schon vor Wochen ein Brief eingegangen war, in dem auf Frau Gossler hingewiesen worden sei.«
»Ein Brief, ja?«, fragte der Geschäftsführer zurück. »Was Sie als solchen bezeichnen, liegt ja dankenswerterweise Ihrer Notiz bei. Aber nennen Sie das wirklich einen Brief? Eine Notiz auf einem karierten Zettel, in Kinderschrift – und das soll Grundlage für verwaltungsgerechtes Handeln sein? Liebe Frau Haltermann, das konnte genauso gut ein übler Streich sein, wissenSie denn nicht, was sich die Leute nicht alles ausdenken, um es ihren Nachbarn heimzuzahlen? Wir kämen in Teufels Küche, wenn wir bei jedem Schrieb gesprungen kämen. Ich sehe schon, Sie müssen noch viel lernen.«
Luzie fühlte sich, als beginne sie in einem Meer der Hilflosigkeit zu versinken. Dabei wäre es längst an der Zeit, auf den Tisch zu schlagen. »Wie sich gezeigt hat«, sagte sie, und wieder klang ihr die eigene Stimme dünn und schwach, als wäre sie ein kleines Mädchen und zum Direktor zitiert worden, »wie sich gezeigt hat, ist
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