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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
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nicht nur Saids Mörder. Auf diesen Datingseiten tummeln sich auch sonst viele Verrückte und Gestörte.«
    Ich winkte ab. »Ich entstamme einer indischen Familie und wohne im Kreis 4. So schnell bin ich nicht zu erschüttern, glaub mir.«

Samstag
    Eine beinahe feierliche Stille lag über der Lichtung, als ich aus dem Wald trat. Über Nacht hatte es erneut geschneit, der Schnee war noch unberührt. Ich war demnach nicht zu spät dran. Nichts zeugte mehr von den dramatischen Geschehnissen am Donnerstagmorgen, jegliche Fußabdrücke hatte die dicke weiße Decke unter sich begraben. Nicht einmal mehr die Reifenspuren der Polizeiautos, die sich tief in den hart gefrorenen Schnee gefräst hatten, waren zu erkennen. Stattdessen warfen die ersten Sonnenstrahlen einen glitzernden Schleier über die Schneewehen.
    Zwar war ich vom Aufstieg etwas außer Atem, doch seit ich aufgehört hatte zu rauchen, bekam ich irgendwie mehr Luft, als hätten sich meine Lungen geweitet. Manchmal schien es mir, als könnte ich meine roten Blutkörperchen vor Entzücken jubeln hören.
    Ich gähnte und schob mir einen Kaugummi in den Mund. Es war unerhört früh, vor allem für einen Samstag, doch während ich die Fotos für die Datingseite noch in der vorigen Nacht gescannt und auf ein hastig erstelltes Profil hochgeladen hatte, war ich in Gedanken den Ablauf der Geschehnisse noch einmal durchgegangen. Dabei war ich auf etwas gestoßen, dem ich bis anhin keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Also hatte ich schweren Herzens auf die übliche Freitagstour quer durch den Kreis 4 verzichtet, die mich jeweils bis in die frühen Morgenstunden von einer Bar zur nächsten führte. Und mich stattdessen nach einer unangenehm kurzen Nacht in meinen Käfer gesetzt, um zum zweiten Mal in dieser Woche nach Zumikon zu fahren.
    Während ich wartete, besah ich mir die abgebrochenen Äste und Zweige über dem Fundort der Leiche erneut. Sie waren von flaumigem, frisch gefallenem Schnee bedeckt, doch von meiner Position aus schien sich seit vorgestern nichts an ihnen verändert zu haben.
    Verächtlich stieß ich die Luft aus und wunderte mich, wann der Staatsanwalt wohl vorhatte, endlich die Untersuchung der Bruchstellen anzuordnen. Denn spätestens wenn der Bericht der Spurensicherung auf seinen Schreibtisch flatterte, musste ihm ein Licht aufgehen, weil sich an den Ästen genauso wenig Textilfasern oder Hautfetzen finden würden, wie Rindenpartikel an der Leiche. Damit musste selbst einem Dr. Frank R. Tobler schlagartig klar werden, dass der Junge nicht aus einem Flugzeug gestürzt war. Und dann würde die Hölle los sein.
    Im durchgehend geöffneten Kebabstand hatte ich vorhin in der heutigen Zeitung geblättert, während ich im Stehen einen doppelten Espresso hinuntergeschüttet hatte. Erneut war Saids Kleidung abgebildet gewesen, das grässliche T-Shirt und die Jeans. Die Polizei suchte dringend Hinweise aus der Bevölkerung, da bislang weder Identität noch Herkunft des Toten hatten bestimmt werden können.
    Einen Augenblick lang hatte ich mit mir gerungen, schließlich hatte ich beides vergleichsweise rasch in Erfahrung gebracht. Und es war eher unwahrscheinlich, dass sich einer von Saids Kunden oder gar ein Strichjunge bei den Gesetzeshütern melden würde. Ein Anruf hätte also genügt, um Licht in die Angelegenheit zu bringen.
    Doch dann hatte ich mir die Impertinenz und die Verschlagenheit vor Augen geführt, mit der mich der Staatsanwalt hintergangen hatte, und die Zeitung entschlossen beiseitegelegt. Sollte er selber schauen, wo er blieb.
    Laut dem Artikel war es den Gerichtsmedizinern noch nicht möglich gewesen, einen genauen Todeszeitpunkt zu ermitteln, da die Leiche gefroren aufgefunden worden war. Entsprechend scheiterten auch die Versuche, den Flug zu eruieren, mit dem der blinde Passagier ins Land gekommen war.
    Ich sah erneut hinauf ins Geäst. Längst glaubte ich nicht mehr an einen Mord im Affekt oder dass Said Opfer einer Prügelbande geworden war. Nein, vielmehr war Saids Mörder ein außergewöhnlicher Täter, der sich alle Mühe gegeben hatte, den Tatort so authentisch wie möglich zu gestalten. Ein Künstler beinahe, der die Leiche wie auf einer Theaterbühne inszeniert hatte. Er musste jemand sein, der alles sehr genau nahm und nichts dem Zufall überließ. Said sollte aussehen wie ein beliebiges Opfer. Irgendein mittelloser Junge, der aus dem Fahrwerk eines Flugzeugs gestürzt ist. Wie es hin und wieder vorkam. Ein Mann ohne

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