Uferwechsel
hielten die jüngeren Herren allesamt für entbehrlich, dafür versicherten sie im Begleittext – unter Berufung auf ihr selbstverständlich unvoreingenommenes Umfeld –, unglaublich toll auszusehen und darüber hinaus auch noch unkompliziert und offen für alles zu sein. Im Widerspruch dazu stand der keifende Ton, in dem die Kopflosen warnten, man solle sie keinesfalls anschreiben, hätte man selbst kein Facepic zur Hand. Zudem wurden im gleichen giftigen Atemzug Alte, Dicke und Tunten angehalten, sie in Ruhe zu lassen und sich gefälligst anderswo umsehen.
Und ich hatte echt gedacht, nur in heterosexuellen Kreisen sei das Paarungsverhalten kompliziert.
Doch ich hatte bereits genug Zeit vertrödelt und beschäftigte mich eingehend mit Saids Profil. Er hatte nur zwei Fotos von sich hochgeladen, und schon auf diesen wurde ersichtlich, dass er ein hübscher Junge gewesen war, mit feinen Gesichtszügen, einem fordernden Blick und langen, dichten Wimpern. Das erste Bild zeigte ihn nackt von hinten, er guckte kokett über die Schulter in die Kamera. Auf der anderen Aufnahme, die offensichtlich im selben Zimmer gemacht worden war, lehnte er sich mit verschränkten Armen gegen die Wand, durch das Fenster neben ihm waren ein paar Baumkronen über einer Uferpromenade und ein Stück See mit Segelschiffen zu erkennen. Said wirkte feminin und trug auf dem zweiten Foto ein ärmelloses weißes Oberteil mit Stehkragen, das entfernt an Audrey Hepburn erinnerte.
Ich klickte das Untermenü mit den Nachrichten an und fand schnell heraus, dass seine letzte Meldung an einen Benutzer namens Silberwolf gesendet worden war. Mit einem weiteren Klick hatte ich Einblick in die gesamte Unterhaltung, die an dem Abend stattgefunden hatte.
Der kurze, aber erstaunlich zweckorientierte Chat drehte sich einzig darum, dass der Silberwolf Said am Sonntag treffen wollte und bereit war, dafür eine stolze Summe hinzublättern. Aus seiner letzten Nachricht ging hervor, dass der Mann in einem kleinen Park hinter der St. Jakobskirche auf den Jungen warten würde, dieser solle pünktlich um elf dort sein.
Worauf Said einzig mit einem Okay geantwortet hatte.
Das war am Sonntagabend um siebzehn Minuten nach zehn Uhr gewesen. Um elf hatte er den Silberwolf getroffen und vier Tage später steif gefroren im Wald gelegen. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Wohin waren die beiden gefahren? Wer steckte hinter dem Pseudonym Silberwolf und wie kam ich an ihn ran? Es konnte sein, dass Saids Freier der Letzte war, der ihn lebend gesehen hatte. Oder war er gar der Mörder?
Said hatte seit Sonntagabend keine Nachrichten mehr versandt, was bedeuten konnte, dass er in der Zwischenzeit nicht mehr in die Mansarde zurückgekehrt war. Es war aber genauso gut möglich, dass er nur die Datingseite nicht mehr aufgerufen hatte, weil er genügend Kundschaft hatte oder mit anderem beschäftigt war. Luiz war die ganze Woche weg gewesen, daher musste ich auf andere Art herausfinden, ob und wann Said vom Treffen mit seinem Freier zurückgekehrt war.
Ich ging die ausgetauschten Nachrichten nochmals durch und notierte mir dabei die Telefonnummer, die Said im Verlauf des Chats angegeben hatte, falls ihn seine Verabredung erreichen musste.
Ich kramte mein Telefon hervor, wählte die Nummer und lauschte, doch alles blieb still. Wo war das Handy geblieben? Es war wahrscheinlich, dass es sich am selben Ort befand wie Saids Jacke. An dem Ort, an dem Said ermordet worden war. Irgendwie musste ich dorthin finden.
Ich klickte das Profil des Silberwolfs an, vielleicht stieß ich so auf einen Hinweis zu seiner Person oder seinen sexuellen Vorlieben. Kaum hatte ich sein Profil geöffnet, erschien ein separates Fenster auf dem Bildschirm, das nur Text enthielt. Als ich diesen las, durchfuhr es mich siedend heiß. Der Betreiber der Datingseite teilte förmlich mit, dass der User mit dem Namen Silberwolf sein Profil gelöscht hatte. Und zwar am Donnerstagmorgen um elf Uhr achtunddreißig. Also nur wenige Stunden, nachdem Said tot aufgefunden worden war. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. War ich auf Saids Mörder gestoßen?
Luiz trug nichts außer sehr engen Boxershorts, als er mir die Tür spaltbreit öffnete. Sein Gesicht war verquollen, die Augen gerötet. Er hatte im Dunkeln gesessen, im Hintergrund war der flackernde Schein eines Fernsehers auszumachen, der ohne Ton lief. Saids Tod ging ihm offenbar sehr nahe und er strafte seine eigenen Worte Lügen, demnach Stricher zu echten
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