Uferwechsel
Hintergrund, ohne Geschichte.
Man würde vergebens versuchen, den Jungen zu identifizieren, würde seine Kleidung analysieren, seinen körperlichen Zustand, den Mageninhalt. Bluttests würden gemacht werden, seine Zähne kontrolliert und sein Bild würde in Zeitungen veröffentlicht werden, in der Hoffnung, dass ihn jemand erkannte. Meldete sich niemand, würde man den Toten schließlich begraben und die Akte schließen. Und keiner würde darauf kommen, dass da etwas faul war. Das musste Saids Mörder sich erhofft haben.
Ich blickte zu der Stelle, an der die Leiche gefunden worden war. Der Täter hatte unter Berücksichtigung der Flughöhe und Flugbahn präzise die Stelle ausgesucht, die für einen Absturz infrage kam, ich hatte das auf der Karte im Internet überprüft. Das Fahrwerk musste kurz vor Erreichen des Fundortes ausgefahren werden. Danach hatte der Mörder nicht nur die Äste präpariert, damit sie aussahen, als seien sie beim Sturz abgebrochen, sondern – wie ich annahm – auch den Toten mit einem schweren Gegenstand traktiert, bis seine Knochen zerschmettert waren wie nach einem Fall aus großer Höhe.
Ich fragte mich schaudernd, ob Said die Verletzungen vor oder nach seinem Tod zugefügt worden waren. Die Obduktion würde das zeigen. Falls er noch gelebt hatte, erhielt das Verbrechen mit einem Mal eine ausgeprägt emotionale Komponente, was aber dem umsichtig inszenierten Fundort deutlich widersprach.
Seufzend ließ ich meinen Blick über die Lichtung schweifen. Auch wenn ich einen Schritt weiter war, als die Polizei und die Staatsanwaltschaft: Ich stand noch ganz am Anfang meiner Ermittlungen.
Aus der Ferne erklang plötzlich ein Grollen, das sich rasch näherte. Ich blickte hoch, doch ich konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. In der nächsten Sekunde verdunkelte sich der Himmel und instinktiv duckte ich mich, als das Flugzeug im Landeanflug über meinen Kopf hinwegdonnerte. Als ich aufsah, konnte ich gerade noch das herausgefahrene Fahrwerk erkennen sowie das weiße Kreuz auf der roten Heckflosse, bevor die Maschine hinter den Baumwipfeln versank. Das Tosen verebbte zu einem Rauschen und verlor sich rasch jenseits des Waldstücks. In der Stille, die sich jetzt ausbreitete, war das näher kommende metallische Rasseln deutlich auszumachen. Erleichtert wandte ich mich um.
Der Beagle stellte seine Schlappohren auf und hob aufmerksam witternd den Kopf. Als mich der klein gewachsene Hund mit dem hellbraun-schwarzen Rücken und dem weißen Bauchfell entdeckte, knurrte er halbherzig und blickte sich dann fragend zu seinem Herrchen um, das wenig später keuchend neben ihm stehen blieb und sich am Stamm einer Buche abstützte. Nicht nur anhand des Beagles erkannte ich den Spaziergänger sofort wieder, der Said gefunden hatte. Das Warten hatte sich gelohnt.
Ich hob die Hand zum Gruß. »Früh unterwegs!«, rief ich ihm über die Lichtung hinweg zu.
»Der Hund …« Der ältere Mann in seiner dicken Jacke schnappte nach Luft, bevor er durch den Schnee auf mich zustapfte. Der Beagle eilte ihm voraus und schnupperte schwanzwedelnd an meiner Hand.
»Der kennt keine Wochenenden.« Der Mann schnaufte schwer, als er bei mir ankam, und kraulte das Tier am Kopf. »Nicht wahr, Chester?«
Chester blickte zu seinem Herrchen hoch und wedelte jetzt heftiger mit dem Schwanz.
»Er ist noch jung, ein Jagdhund. So ein Kerlchen braucht Auslauf.« Der Mann lachte, dann zog er eine Meerschaumpfeife und einen eingerollten Beutel Tabak aus seiner Jackentasche. Er begann, den Pfeifenkopf, der an ein Baiser erinnerte, umständlich zu stopfen. »Und Sie?«
»Nicht mehr ganz so jung, aber auch ein Jagdhund, irgendwie«, erwiderte ich.
Aufmerksam sah er mich durch die Gläser seiner Brille an. »Sie sind wegen dem Toten hier?« Mit einem leichten Anheben seines Kinns deutete er auf die Lichtung, während er das Tabaksäckchen wieder in seiner Tasche verstaute und eine Streichholzschachtel hervorkramte.
Ich beschloss, die Karten auf den Tisch zu legen. »Man hat mich von privater Seite beauftragt, seinen Tod zu untersuchen.«
»Sie sind nicht von der Polizei?« Er ließ mich nicht aus den Augen, während er ein Streichholz entflammte und den Tabak hinter der schützend um das Baiser gewölbten Hand in Brand steckte.
Ich verneinte und nannte ihm meine Berufsbezeichnung, worauf er nickte, als sei ihm jetzt einiges klar geworden.
»Vijay Kumar, übrigens. Ich habe es versäumt, mich vorzustellen.«
»Schmied, Erwin
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