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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
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ich Kurt Binggeli als möglichen Täter ausschließen. Ganz geheuer war er mir trotzdem nicht.
    Als ich auf den Laubengang hinaustrat, klingelte mein Telefon. Ich blickte auf das Display und verdrehte die Augen. Meine Mutter. Immerhin rief sie mittlerweile nicht mehr vier Mal täglich an. Ich nahm ab und erschrak, als ich den angsterfüllten Klang ihrer Stimme vernahm.
    »Dein Vater!«, sagte sie und begann zu schluchzen.
    Obwohl später Nachmittag war, waren die Rollläden heruntergelassen. Eine Nachttischlampe spendete spärliches Licht und es roch muffig in dem Zimmer, nach saurem Schweiß und Alkohol. Als ich leise die Tür hinter mir schloss, erhob sich meine Mutter sofort von dem Stuhl, auf dem sie vor dem Bett gewacht hatte, und eilte mir mit ausgestreckten Armen entgegen. Sie drückte sich an mich und ihr Körper zitterte dabei. Ich hielt sie fest und ließ sie weinen. Gleichzeitig versuchte ich, einen Blick auf meinen Vater zu erhaschen. Reglos lag er da und starrte an die Decke. Die Wolldecke, mit der er sich zugedeckt hatte, war etwas verrutscht und gab ein Knie frei. Er trug seinen alten, löchrigen Pyjama, den er irgendwann aus Indien mitgebracht hatte und trotz der Überzeugungskraft meiner Mutter nie gegen einen neuen hatte eintauschen wollen.
    » Hai rabba! Er steht nicht mehr auf«, schniefte meine Mutter und löste sich von mir, um sorgenvoll ihren Mann zu betrachten. Dabei hielt sie mich an der Hand fest und drückte sie, wie sie es früher zu tun pflegte, bevor wir eine Straße überquerten.
    »Dann lass ihn doch. Vielleicht braucht er einfach Ruhe.«
    » Beta , er ist seit fünf Tagen nicht mehr aufgestanden!«
    »Fünf Tage?«, rief ich erstaunt, senkte aber meine Stimme sofort wieder. »Was hat er denn?«
    »Ich weiß es nicht. Er spricht nicht, er isst nicht, er trinkt kaum und wenn, dann nur diesen verdammten Amrut .«
    »Wieso sagst du mir das erst jetzt?«
    »Ach, du hast ja immer so viel zu tun. Ich wollte dich nicht beunruhigen.«
    »Das ist dir nicht gelungen. Hast du einen Arzt gerufen?«
    Meine Mutter nickte und wischte sich die Tränen weg. »Er muss gleich hier sein.«
    Ich ließ ihre Hand los und setzte mich an den Bettrand. »Pitaji« , sagte ich leise und berührte ihn an der Schulter. »Vater. Was ist mit dir?«
    Er gab keine Antwort. Ich wusste nicht einmal, ob er mich wahrnahm, sein Blick war starr zur Zimmerdecke gerichtet, er wirkte, als hätte er seinen Körper und sein Bewusstsein verlassen. Besorgt hielt ich seine kraftlose Hand fest, bis das Klingeln der Türglocke den Arzt ankündigte.
    Bange saßen meine Mutter und ich im Wohnzimmer und lauschten auf jedes noch so verhaltene Geräusch, das aus dem Schlafzimmer drang. Gedämpft war die sonore Stimme des Arztes zu hören und wenn sie für kurze Zeit verstummte, sahen wir uns besorgt an. Die Anspannung hatte uns die Sprache verschlagen. Nur das monotone Ticken der alten Standuhr war in der Stille zu hören. Schließlich erhob sich meine Mutter seufzend und ging in die Küche, um Tee zu machen. Als sie zurückkehrte, brachte sie ein Tablett mit, auf dem sich nebst dem Teekrug und drei Tassen eine mit indischen Süßigkeiten gefüllte Kupferschale befand. Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, doch sie zuckte nur mit den Schultern, setzte sich und steckte sich ein Laddoo in den Mund. So waren Inder. Auch bei größten Schicksalsschlägen vergaßen sie eins nie: zu essen.
    Als sich die Tür endlich öffnete, sprangen wir beide vom Sofa hoch, doch der Arzt, ein älterer Herr mit zerfurchtem Gesicht und strähnig ergrautem Haar, deutete nur auf mich.
    »Ihr Vater möchte Sie sehen.«
    Ich drückte im Vorbeigehen den Arm meiner Mutter, die sich schon Richtung Schlafzimmer bewegte, und bedeutete ihr zu warten. Doch sie kam mir unbeirrt nachgelaufen, erst auf eine resolute Handbewegung des Hausarztes hin blieb sie widerwillig stehen. In ihrem Gesicht spiegelte sich Verständnislosigkeit, aber auch eine wachsende Empörung, die sich vor allem gegen den Mediziner richtete.
    Linkisch klopfte ich an, bevor ich eintrat.
    Mein Vater lag immer noch im Bett. Der Arzt hatte ihm einige Kissen in den Rücken gestopft, sodass er aufrecht sitzen konnte, jetzt starrte er mit leerem Blick an die gegenüberliegende Wand. Mir fiel auf, wie abgemagert er wirkte, wie blass und freudlos.
    »Du wolltest mich sprechen?«, flüsterte ich.
    Er reagierte nicht sofort auf meine Frage. Wie in Zeitlupe wandte er den Kopf und sah mich so ausdruckslos an,

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