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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
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Vater, Beta? «, fragte er jetzt und seine Stimme klang rau dabei.
    Ich nickte, während sich ein Kloß in meinem Hals breitmachte.
    Enttäuscht ließ er die Schultern sinken. »Ich möchte eine ehrliche Antwort.«
    Seine letzten Worte trafen mich wie ein Peitschenhieb. Verletzt schaute ich ihn an, bis ich allmählich begriff. Natürlich hatte ich nicht eine Sekunde lang überlegt, bevor ich ihm geantwortet hatte. Es war eine Frage, die man als Sohn blindlings bejahte, selbst wenn die Wahrheit ganz anders aussah.
    Als ich jetzt ernsthaft darüber nachdachte, fiel mir ein, wie oft er früher weg gewesen war, weil er Doppelschichten gearbeitet hatte und danach mit den wenigen Indern, die in der Stadt gelebt hatten, um die Häuser gezogen war. Immer mit Indern, nie mit anderen Arbeitskollegen, ganz sicher nie mit Schweizern. Später kam dann der Laden, auch in dieser Zeit hatte ich ihn – wenn überhaupt – nur bei der Arbeit gesehen.
    ›Stör ihn jetzt nicht, Vater arbeitet.‹ Wie oft hatte ich das gehört. Oder: ›Vater schläft, er war bis um Mitternacht im Geschäft.‹
    Doch irgendwann hatte er aufgegeben. Es muss ihm klar geworden sein, dass er es nicht bis ganz nach oben schaffen würde, dass der Höhepunkt seiner erhofften Karriere in einem kleinen Lebensmittelladen an der Langstrasse stattfand und nicht als Sternekoch im Hilton .
    Ich wusste, wie ehrgeizig Inder im Ausland sein konnten, wie viel ihnen Karriere und Wohlstand bedeuteten und wie angesehen sie in der alten Heimat waren, wenn sie es geschafft hatten. Ich konnte die Frustration meines Vaters nur erahnen, er musste sehr darunter gelitten haben und tat es augenscheinlich immer noch.
    Weder ich noch meine Mutter hatten sich Gedanken gemacht, als er sich immer mehr zurückzog, in seinen Sessel vor dem Fernseher, in dem er im halbwachen Zustand Cricketspiele anguckte oder in tagealten indischen Zeitungen las, während ein stets gefülltes Glas Amrut auf dem Beistelltischchen stand. Anders hatte ich ihn in den letzten Jahren kaum gesehen. Doch es waren Warnzeichen gewesen, die wir beide übersehen hatten.
    »Und?«, hakte er nach, und ich bemerkte, dass er mich die ganze Zeit über beobachtet hatte.
    »Du warst nie da, wenn ich dich gebraucht hätte«, gab ich wahrheitsgetreu zu. »Dabei hätte ich dich gern häufiger gesehen.«
    Sein Kehlkopf zuckte, er tastete nach meiner Hand und drückte sie behutsam. Als er bemerkte, dass ich sie nicht zurückzog, drückte er fester. » Mera Beta , mein Sohn.« Zum ersten Mal, seit ich das Zimmer betreten hatte, lächelte er. »Ich dich auch.«
    »Wir fliegen!« Resolut hievte meine Mutter einen urtümlich anmutenden Koffer durch die Schlafzimmertür. »Der nächste Flug nach Mumbai geht morgen Mittag, ich habe soeben zwei Plätze reservieren lassen.«
    »Glaubst du, das nützt was?« Ratlos sah ich ihr zu, wie sie das Gepäckstück auf den Boden schleuderte.
    Meine Mutter warf mir einen unwirschen Blick zu und verschwand erneut im Nebenraum. Kurz darauf kam sie wieder zurück, beladen mit Kleidungsstücken, die sie willkürlich in den Koffer stopfte, bevor sie abermals wegeilte.
    »Ma! Hör auf, so hysterisch zu tun!«, fuhr ich sie an, als sie mit einem weiteren Stapel Klamotten erschien. Sie starrte mich mit zusammengepressten Lippen an und kniete sich dann stumm hin, um wie in Zeitlupe ein Bekleidungsstück nach dem anderen in den Koffer zu legen. Als sie fertig war, begann sie, unablässig über das zuoberst liegende Hemd zu streichen, als gäbe es da Falten zu glätten. Dabei wurden ihre Bewegungen immer langsamer, bis meine Mutter schließlich einhielt.
    Als ich mich neben sie kniete, sah ich, dass ihr Tränen übers Gesicht liefen.
    »Der Arzt sagt, dein Vater hat Depressionen. Schwere Depressionen.«
    »Ma …« Tröstend legte ich den Arm um sie.
    »In Indien gibt es keine Depressionen! Wir sind immer fröhlich und gut gelaunt und … Es ist dieses Land, das ihn so verändert hat! Hier scheint nie die Sonne und die Leute sind so …«
    »Ma, das ist unfair.«
    Sie schluchzte und barg ihr Gesicht an meiner Schulter. »Ich weiß. Aber ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll. Ich fühle mich … so verloren. Und schuldig.«
    »Was hat der Arzt gesagt?«
    »Das käme vor bei Immigranten. Manchmal helfe eine Reise in die alte Heimat. Und er hat deinem Vater starke Medikamente verschrieben.«
    »Und ein Aufenthalt in einer Klinik?«
    Entsetzt sah mich meine Mutter an. »Was denkst du denn? Ich kann ihn

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