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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
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doch nicht einliefern lassen! Er ist ja nicht verrückt!«
    »Natürlich nicht«, bemühte ich mich um einen besänftigenden Ton. »Aber dort gäbe es Fachärzte …«
    »Auf gar keinen Fall! In unserer Familie musste noch nie jemand in die Psychiatrie! Wir sind nicht so!«
    Ihre Miene machte deutlich, dass jeder weitere Einwand zwecklos war. Ich erhob mich und setzte mich wieder aufs Sofa. Mit einem Mal fühlte ich mich todmüde.
    Depressionen also. Und wir hatten nicht einmal geahnt, was in ihm vorging, weil wir so beschäftigt waren mit unseren eigenen Problemen.
    »Was ist mit dem Laden?«, fragte ich, nur um etwas zu sagen.
    »Darüber wollte ich mit dir gerade reden …«
    »Das geht nicht!«, erwiderte ich schnell.
    Meine Mutter sah mich erstaunt an. »Was geht nicht?«
    »Ich kann den Laden nicht übernehmen.«
    »Aber wer spricht denn von dir? Manju wird ihn führen, bis wir zurück sind. Sie ist mittlerweile meine rechte Hand im Geschäft und weiß, wie alles läuft. Zudem hat sie sich gut entwickelt und ist eine hübsche junge Frau geworden.« Abwartend sah sie mich an, während ich zustimmend brummte und meine Nase tief in die Teetasse steckte.
    »Findest du nicht?«, zwang sie mich zu antworten.
    »Doch, doch. Ich weiß nur nicht, ob wir …«
    »Das ist mir auch schon aufgefallen. Aber mach dir keine Sorgen.« Sie lächelte. Doch was sie wohl als ›zuversichtlich‹ bezeichnet hätte, versetzte mich in höchste Alarmbereitschaft. »Ma? Was hast du vor?«
    »Nichts.« Sie setzte ihren unschuldigsten Blick auf und ich wusste sofort, dass etwas faul war.
    »Ma?«
    »Aber ich bin mir nicht sicher, ob Manju es allein schafft«, wechselte sie abrupt das Thema. »Vielleicht könntest du …?«
    »Ich arbeite gerade an einem wichtigen Fall.«
    »Einem Fall, einem Fall. Wann lernst du endlich, dass die Familie vorgeht?«
    Meine Mutter hatte ein unglaubliches Talent, wenn es darum ging, sekundenschnell Schuldgefühle in mir zu wecken.
    »Ich kenne jemanden, der vielleicht aushelfen könnte …«
    »Aber nicht deine merkwürdige Freundin!«
    »Warum nicht?«
    »Die Hijra? Auf gar keinen Fall!«
    »Ma, sie ist keine Hijra! Hijras sind … sind …« Ich suchte verzweifelt nach der korrekten Definition.
    »… Männer in Frauenkleidern, die sich prostituieren!«, beendete meine Mutter den Satz.
    »Aber Miranda ist immer perfekt rasiert und geschminkt! Und sie kann kochen!«
    »Sie ist eine Hijra . Wohl oder übel wirst du Manju im Laden zur Hand gehen müssen.«
    »Aber in Indien sagt man doch, Hijras bringen Glück.«
    Meine Mutter hielt mitten in der Bewegung inne. Dann legte sie die Bluse, die sie soeben zusammengefaltet hatte, behutsam in den Koffer. Sie schien mit sich zu ringen, bevor sie einlenkte: »Aber wehe, sie vertreibt mir meine Kundschaft!«
    »Zu Kundschaft jeglicher Art hat sie einen ganz besonders guten Draht«, versicherte ich hastig und fragte mich gleichzeitig, auf was ich mich da gerade eingelassen hatte. Es war wohl höchste Zeit, meinem Ganesha auf der Truhe, der laut der Legende Hindernisse verschwinden lassen konnte, wieder einmal ein stattliches Opfer darzubringen.
    Auf der Heimfahrt machte ich mir Vorwürfe. Der Zustand meines Vaters war besorgniserregend schlecht und ich fragte mich, weshalb weder meine Mutter noch ich etwas davon gemerkt hatten. Es hätte uns doch auffallen müssen, wie schlecht es ihm ging. Wie unglücklich er war. Doch Depression war eine heimtückische Krankheit, wie der Arzt meiner Mutter gesagt hatte, man bemerkte sie oftmals erst, wenn es zu spät war.
    Ich konnte nur hoffen, dass meinem Vater der Aufenthalt in Indien guttun würde. Obwohl er und meine Mutter jedes Jahr dahin flogen und – soviel ich wusste – in ihrem ganzen Leben den Urlaub nie woanders verbracht hatten, war es diesmal nicht dasselbe. Denn diesmal ging es nicht darum, Verwandte reich zu beschenken und sich für ein paar Wochen in der alten Heimat einzurichten, als hätte man sie nie verlassen. Diesmal galt es, eine zerrissene Seele zu heilen.
    Ich war immer noch bedrückt, als ich die Treppe zu der Wohnung hochstieg, in die Manju erst kürzlich eingezogen war. Eine Wohngemeinschaft mit zwei anderen jungen Frauen an der Zwinglistrasse, Altbau mit vernünftiger Miete – noch, denn wie bei unzähligen Immobilien im Kreis 4 häuften sich auch hier die Anzeichen, dass das Haus wohl bald verkauft werden würde. Schon mehrmals hätten sie ganze Delegationen von Kaufinteressenten im Treppenhaus

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