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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
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Mauern der Gebäude hinauf, sickerte über die Fassaden der Banken und Versicherungskomplexe und griff allmählich auf die Menschen über. Sie tränkte lange Mäntel, Hosen, Schuhe und Hüte und legte sich auf die Gesichter, aus denen graue Atemwolken hochstiegen, um sich über den Dächern zu einer Nebeldecke zu verdichten, die für Wochen und Monate trostlos über der Stadt hängen blieb.
    Auch ich fühlte mich grau an diesem Morgen, als ich meinen Käfer über die Kornhausbrücke Richtung Flughafen steuerte.
    Mein Vater saß steif neben mir, die Hände im Schoß, das Gesicht ausdruckslos, derweil meine Mutter auf dem Rücksitz genauso eindringlich wie unablässig wiederholte, dass ich unter keinen Umständen vergessen sollte, ihre Zimmerpflanzen zu gießen, und worauf ich unbedingt achten müsse, wenn ich im Laden vorbeischaute.
    »Lass mindestens eine Lampe brennen, wenn du die Wohnung verlässt, hörst du? Das schreckt Einbrecher ab!«
    Ich nickte mechanisch, was sie nicht sonderlich zu überzeugen schien, immer wieder lehnte sie sich vor und rüttelte unsanft an meiner Schulter, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.
    Heute waren meine Gedanken viel zu sehr mit meinem Vater beschäftigt, der scheinbar willenlos alles mit sich geschehen ließ, als dass mich die unablässigen Anweisungen meiner Mutter genervt hätten.
    Ohne ein Wort an mich zu richten, war er langsam die Treppe hinuntergestiegen, als ich meine Eltern abgeholt hatte, ungelenk und so zögerlich, dass ich mich gefragt hatte, ob er mich beim Kofferschleppen absichtlich aufhalten wollte. Doch seine Miene war selbst dann stoisch geblieben, als ich ihn – gereizt und übernächtigt, wie ich war – angefahren hatte, sich etwas zu beeilen. In derselben Sekunde hatte ich meine Unbeherrschtheit bereut, doch auch meine Entschuldigung nahm er ohne merkbare Regung entgegen. Es war diese Teilnahmslosigkeit, die mich erschütterte. Er kam mir vor, als wäre er tief in sich selbst versunken, an einen Ort, wo ihn niemand mehr erreichen konnte, sein Körper nur mehr Hülle. So hatte ich ihn in all den Jahren noch nie erlebt.
    Als ich jetzt vor dem Flughafenterminal anhielt und die Unzahl an Gepäckstücken auslud, die meine Mutter in Rekordzeit gefüllt hatte, legte mein Vater mir schwer die Hand auf die Schulter, als wollte er etwas sagen. Doch dann lächelte er nur, so traurig und hoffnungslos, dass es mir die Kehle zuzog. Dann wandte er sich ab und taperte zittrig wie ein Greis, der er längst noch nicht war, auf die Schiebetüren zu.
    » Beta …« Meine Mutter half mir, den letzten Koffer auf den Gepäcktrolley zu hieven, dann hielt sie inne. Die Verzweiflung, die sie schon die ganze Zeit versucht hatte zu überspielen, zerfurchte jetzt ihr Gesicht. Ihre Augen wurden feucht und impulsiv drückte sie mich an sich.
    »Passt auf euch auf«, sagte ich mit brüchiger Stimme.
    » Betaji , da war noch etwas, das ich dir sagen wollte …« Mit einer unsicheren Bewegung strich sich meine Mutter eine lose Haarsträhne hinters Ohr. Doch mir fehlte die Zeit, mir weitere Gedanken dazu zu machen, denn in der Abflughalle sah ich meinen Vater mit unbestimmtem Ziel auf die Rolltreppen zuschlurfen.
    »Ma! Vater!«
    Alarmiert drehte sich meine Mutter um. »Wir reden, wenn ich zurück bin«, rief sie mir über die Schulter hinweg zu. »Oder noch besser: Ruf mich in Indien an!« Energisch schob sie den Gepäckwagen mit den aufgetürmten Koffern an und holte meinen Vater gerade noch rechtzeitig ein. Mit einer zärtlichen Geste legte sie ihm eine Hand auf den Arm und steuerte ihn dann Richtung Check-in-Schalter. Mit einem Mal fühlte ich mich so verlassen und einsam, als wäre ich soeben Waise geworden.
    Das genervte Hupen des Fahrers hinter mir schreckte mich auf. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie lange ich im Wagen gesessen und tief in Gedanken versunken in den fallenden Schnee hinausgestarrt hatte. Doch die Kühlerhaube war von dichtem, weißem Flaum bedeckt, als ich jetzt vom Kurzparkplatz fuhr. Ich öffnete das Fenster fingerbreit, in der Hoffnung, dass der kühle Luftzug meinen Kopf klärte und die Müdigkeit vertrieb, die mich bleiern nach unten zog. Es war nicht nur die Sorge um meinen Vater, die mich umtrieb, auch die Ereignisse der vergangenen Nacht und dieser merkwürdige Fall, an dem ich arbeitete, beschäftigten mich.
    Ich nahm die Autobahn, die mich durch den Milchbucktunnel zurück in die Stadt führte, und als ich vor der Ampel an der Kornhausbrücke warten

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