Uferwechsel
meiner Mutter klagen. »Aber in drei Wochen kehrt wieder Ruhe ein.«
»Drei Wochen?«
»So lange erscheint die Anzeige täglich in der Zeitung. Aber man weiß ja nie! Vielleicht ist ja doch eine junge Frau darunter, die …«
Ich beendete den Anruf und stürmte die Treppe hinunter. Im Briefkasten lagen siebzehn Umschläge. Beim Hinaufgehen überflog ich die Absender – alles indische Namen. Ich schleuderte die Briefe ungeöffnet auf den Beistelltisch neben meinem Sofa. Dann leerte ich das Glas Amrut , das immer noch unberührt herumstand, in einem Zug.
Kaum hatte ich aufgelegt, fiel mir ein, dass ich ganz vergessen hatte, nach meinem Vater zu fragen. Ich beschloss, dies später nachzuholen, wenn ich mich beruhigt hatte.
Ich rief José an, um mich mit ihm zu verabreden, doch er sagte, er habe gerade keine Zeit. Fiona habe nämlich begonnen, ernsthaft nach einer gemeinsamen Wohnung zu suchen, etwas, das sich in Zürich enorm zeitaufwendig gestalten konnte, und er müsste sie dabei unterstützen. Ich hörte den Anflug leichter Panik in seiner Stimme, doch ich ignorierte dies und erkundigte mich stattdessen nach den neusten Erkenntnissen im Fall Said.
»Nichts«, brummte José. »Es wird auch keine Information mehr an die Presse weitergegeben. Keine Ahnung, was da läuft.«
»Und wann trinken wir wieder mal was zusammen?«
»Hm, ich muss mal Fiona fragen …«
Ich verdrehte die Augen. Wie man sich bettet, so liegt man. »Meld dich einfach.«
»In den nächsten Tagen sieht’s jedenfalls nicht so doll aus, da besichtigen wir gefühlte dreißig Wohnungen.«
»Und steht jedes Mal Schlange um den Block.«
»Nach ein paar Besichtigungen kennt man sich. Da ergeben sich manchmal ganz nette Bekanntschaften.«
»Na toll!«
»Ja, ja, ich weiß«, gab José zu. »Ich guck mal wegen einem Drink am Wochenende …«
»Ich trinke nicht nur am Wochenende. Da ruft übrigens jemand im Hintergrund nach dir.«
»Ich muss los.« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Bis dann.«
Ich schenkte mir ein weiteres Glas Amrut ein und machte mir beim Trinken ein paar Gedanken zu Beziehungen und was sie so mit sich brachten, doch schon bald legte ich das Thema ad acta. Gegenwärtig gab es Dringenderes für mich.
Kathis Wohnung war verqualmt. Glücklicherweise war ich nicht zu einem dieser militanten Exraucher mutiert, die bei der leichtesten Rauchschwade demonstrativ hüstelten oder anderen Rauchern den Griff zur Zigarette mit galligen Bemerkungen madig machten. Nach wie vor mochte ich den Geruch frischen Rauches und war gleichzeitig froh, dass ich morgens nicht mehr nach abgestandenem roch.
Kathi kauerte auf dem Wohnzimmerboden vor dem Fernseher und sah nicht auf, als ich an den Türrahmen klopfte. Wie gebannt hing ihr Blick am Bildschirm, wo eine Aufnahme von Nils’ Auftritt bei der Castingshow lief.
Sie musste im Publikum gewesen sein und mitgefilmt haben, denn die Tonqualität war mittelmäßig und das Bild verwackelt. Trotzdem wurde mir schlagartig klar, weshalb die Regie seine Darbietung auf ein Minimum gekürzt und ihn bereits nach wenigen Sekunden wieder ausgeblendet hatte: Die Stimme des Jungen war noch dünner als sein Haar und weder sein affektiertes Getue noch seine überhebliche Attitüde schafften es, von dem nicht vorhandenen Talent abzulenken.
Es war jämmerlich. Wieder so ein junger Mensch, dessen größtes und wahrscheinlich einziges Talent die Selbstinszenierung war und der mit der Aussicht auf schnellen Ruhm und kurzfristigen Erfolg auf die Bühne gelockt wurde, wo er sich der Lächerlichkeit preisgab. Derweil die Sender frohlockten, weil sie die Schadenfreude des Publikums befriedigen konnten und damit die Quoten hochtrieben.
»Na«, machte ich zu Kathi und als sie endlich zu mir aufblickte, waren ihre Augen voller Tränen.
»Was hast du rausgefunden?«, fragte sie schniefend und startete Nils’ Auftritt von vorn.
»Nils hat vorgehabt, sich zum Heterosexuellen umpolen zu lassen. Ich nehm jetzt mal an, um bessere Karrierechance zu bekommen.«
»Echt?« Kathi sah mich konsterniert an. Nils hatte tatsächlich nicht einmal seine beste Freundin in seine Pläne eingeweiht. »Aber …« Sie deutete hilflos auf den Bildschirm, wo Nils sich gerade in eine lasziv gemeinte Pose warf, wäh rend er inbrünstig eine Ballade von Barbra Streisand traktierte. Eine gewagte Wahl für einen angehenden Hetero.
»Voll umpolen?«
»Das System funktioniert nicht ganz einwandfrei.«
»Das wäre eine echte
Weitere Kostenlose Bücher