Uferwechsel
nahm ich die Verfolgung auf und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Als ich dem Mann durch die schmale Gasse hinterherhetzte, wurde mir allmählich das Ausmaß meiner Entdeckung bewusst.
Ich war wieder einmal im Begriff, mich knietief in die Scheiße zu reiten. Zudem begab ich mich in Gefahr. War der Mann, den ich gerade jagte, tatsächlich der Mörder von Nils und Said, war höchste Vorsicht geboten. Ich war bis auf meine scharfe Zunge unbewaffnet und die würde mir wenig helfen, wenn es hart auf hart kam.
Ich rückte dem Typen immer näher, konnte bereits sein Keuchen hören. Wir hatten soeben die Bäckerstrasse überquert, die wie ein breiter Fluss das Quartier teilte, als er plötzlich abbog. Als ich an die Stelle gelangte, wo ich den Mann zuletzt gesehen hatte, war er nicht mehr zu entdecken. Das Klackern fliehender Schritte hallte von den Hauswänden wider, doch es war unmöglich zu sagen, in welche Richtung sie sich entfernten. Ich sah mich um. Die nächste Gasse war zu weit entfernt, dorthin konnte er nicht geflohen sein. Blieb einzig der niedrige Durchgang, der direkt vor mir in einen Hinterhof führte. Ohne lange zu überlegen, eilte ich hinein.
»Hallo?«, rief ich, doch ein dumpfes Echo war alles, was ich als Antwort erhielt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Flüchtige hinter einer Kühlerhaube auftauchte und sich zu erkennen gab, war eher gering, das war mir schon klar. Aber irgendetwas musste man ja zur Einleitung sagen, wenn man gerade einen mehrfachen Mörder in die Enge getrieben hatte. Ich kauerte mich nieder und spähte unter die Autos, doch da waren keine Schuhe zu entdecken, kein Mantelsaum. Der Abfallcontainer quoll über, doch ich sah keine aufsteigenden Atemwolken, die den Flüchtigen verraten hätten. Ich rüttelte an den Türen, die zu den heruntergekommenen Wohnhäusern ringsherum gehörten, alle waren verschlossen. Der Mann war nicht hier. Verärgert sah ich mich um und bemerkte erst jetzt den zweiten Durchgang, der auf der Hinterseite des Hofes hinausführte! Ich stieß einen Fluch aus und rannte los.
Weit vorne sah ich eine Gestalt mit wehendem Mantel davoneilen. Schlagartig wusste ich, wo der Mann hinwollte.
Das Gebäude der Staatsanwaltschaft ähnelte in der Dunkelheit mehr denn je einem vergitterten Bunker. Als ich über den Helvetiaplatz darauf zuhastete, flammten gerade die Lampen im Treppenhaus auf.
Im nächsten Augenblick ging die Flurbeleuchtung an und nur wenig später war auch das Büro im ersten Stock in helles Licht getaucht. Toblers Büro.
Zwar hatte ich vorhin im Park sein Gesicht wegen der ungünstigen Lichtverhältnisse nicht deutlich erkennen können, doch die glatt rasierten Wangen, das markant vorgereckte Kinn und vor allem sein auffälliger sandfarbener Kamelhaarmantel ließen keinen Zweifel daran, dass er der Silberwolf war, oder Silverwolf, wie er sich jetzt nannte. Es war kein Zufall, dass er mich zu exakt derselben Stelle bestellt hatte wie nur wenige Tage zuvor Said.
Leider hatte er mich zuvor erkannt, weil der Wagen auf der Straße gewendet und ich sekundenlang im grellen Scheinwerferlicht gestanden hatte.
Wie sehr musste ihn entsetzt haben, dass er ausgerechnet mit mir verabredet war! Kein Wunder, dass er die Flucht ergriffen hatte. Glücklicherweise hatte er meine Uraltfotos nicht mit mir in Verbindung gebracht, sonst hätte er mich gar nicht angeschrieben.
Er war also hierher zurückgekehrt, wie ich vermutet hatte. Aber wozu? Was hatte er vor?
Ich rüttelte an der Eingangstür, doch sie war verschlossen, und zu klingeln war sinnlos – Tobler würde mich kaum zu einem Kaffee und einem kleinen Plausch hereinbitten. Ich beschloss, ihn von der Straße aus zu beobachten. Entkommen konnte er mir jetzt nicht mehr und er wusste, dass ich draußen auf ihn lauerte.
Allerdings erstaunte es mich schon, dass ausgerechnet Tobler zu denjenigen sogenannten Heterosexuellen gehören sollte, die gerne auch mal in wärmeren Gewässern fischten, um es etwas salopp auszudrücken. Bei meinem anonymen Auftraggeber hatte mich das weniger verwundert. Oskar machte einen sensiblen, einfühlsamen Eindruck auf mich, und wie er sich um Said gesorgt hatte, hatte mich fast berührt. Tobler hingegen war eiskalt und knallhart und strafte somit alle Klischees über Schwule Lügen.
Noch ahnte er wohl kaum, dass ich ihn für Saids Mörder hielt. Und leider konnte ich das auch überhaupt nicht beweisen, denn ich hatte nichts in der Hand. Meine einzigen Trümpfe waren seine
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