Uferwechsel
Konversation mit Said im Internet, die zu einem Treffen geführt hatte, und Kathis Mutmaßungen über Nils’ prominenten Liebhaber. Das war erbärmlich wenig.
Aber vielleicht konnte ich ihn mit seiner Familie unter Druck setzen. Männer mit Familie waren verletzlich. Es war mir durchaus bewusst, dass ich dabei umsichtig vorgehen musste. Said und Nils hatten das Treffen mit Tobler mit dem Leben bezahlt.
Ich versteckte mich neben dem Eingang der Spelunke gegenüber und sah hinauf zum hell erleuchteten Büro. Tobler hatte mir den Rücken zugedreht und telefonierte. Den Mantel und die Anzugjacke hatte er abgelegt und trug jetzt nur noch ein blassblaues Hemd.
Nachdem Tobler den Anruf beendet hatte, verharrte er regungslos. Unvermittelt begann er, im Büro herumzutigern, und fuhr sich dabei immer wieder gereizt durchs Haar, was seine perfekte Frisur aus der Form brachte. Ich war ja gewohnt, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, aber so etwas hatte ich noch nie erlebt: Das Treffen mit mir musste ihn völlig aus der Bahn geworfen haben.
Mein Mobiltelefon meldete einen weiteren Anruf von Miranda. Später, dachte ich nach einem kurzen Blick auf die Anzeige und verdrängte mein schlechtes Gewissen. Mittlerweile war es halb acht.
Als ich wieder hochschaute, war Tobler stehen geblieben und lehnte sich an die Kante des Schreibtisches. Er hielt einen Bilderrahmen in der Hand, den er gedankenverloren betrachtete.
Sekundenlang betrachtete ich diese Szene, bis der Groschen endlich fiel. Genervt über meine eigene Begriffsstutzigkeit schlug ich mir die flache Hand gegen die Stirn. Männer mit Familie waren verletzlich! Erst jetzt, mit einiger Verzögerung, offenbarte sich mir die volle Bedeutung dieses Satzes, dabei hatte ich doch nur eine lächerlich geringe Menge Alkohol intus. Deutlich erinnerte ich mich nun wieder an das Foto auf Toblers Schreibtisch, dasselbe, das er jetzt in der Hand hielt. Schon beim Besuch in seinem Büro hatte ich das Gefühl gehabt, dass damit irgendetwas nicht stimmte, doch erst jetzt erkannte ich, was genau es gewesen war: Das Bild stand verkehrt herum auf dem Tisch!
Zugegeben – das klang nicht gerade nach bahnbrechender Erkenntnis, die man mit knallenden Champagnerkorken, bunten Hütchen und leichten Mädchen hätte feiern müssen. Doch je länger ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich davon, dass es genau das war: ein Durchbruch.
Natürlich konnte es auch Zufall sein, aber das schloss ich selbstbewusst aus und führte mir die Situation nochmals vor Augen: Normalerweise stellte man einen Fotorahmen so hin, dass man die Liebsten darauf sehen konnte, wenn man am Schreibtisch zu tun hatte. Das war nach landläufiger Auffassung Sinn der Sache. Doch diese Fotografie erfüllte einen ganz anderen Zweck. Sie war zum Besucher ausgerichtet, weil sie etwas demonstrieren sollte: die eigene Heterosexualität, die mit einer perfekten Familie belegt wurde. Ein beinahe identisches Bild, genauso verkehrt herum auf dem Tisch platziert, hatte ich in Bobs Büro gesehen. Auch da hatte ich gestutzt. Und es gab noch eine weitere, wenn auch vage Verbindung zwischen Bob und Tobler: das Kreuz an der Wand.
Bedeutete das, dass sich der Staatsanwalt bei Sanduhr hatte behandeln lassen? Eine umgedrehte Fotografie und ein schlichtes Holzkreuz waren kaum Beweis genug. Aber ich glaubte in diesem Fall schon lange nicht mehr an Zufälle.
Mittlerweile wusste ich, dass Bobs Therapie nur bedingt funktionierte. Und wie ich eben selbst erlebt hatte, litt Tobler an Rückfällen, wie so viele, die sich hatten umpolen lassen – sofern sie nicht asexuell lebten. Im Internet verabredete er sich trotz neu gegründeter Familie mit jungen Männern, ohne dabei sein Aussehen oder seine Identität preiszugeben. Das verwendete Pseudonym Silberwolf war dabei zweifelsohne eine Anspielung auf seine silbergraue, perfekt sitzende Haarpracht.
Vielleicht näherte ich mich tatsächlich der Lösung des Falles: Tobler musste unter seinen Ausrutschern gelitten haben, war doch Homosexualität in den Augen der Organisation Sünde, inakzeptabel und widernatürlich. Die selbst ernannten Therapeuten verstanden sich bestens darauf, Schuldgefühle zu wecken, so gut, dass sich manche Männer deswegen umbrachten. Tobler musste sich gefühlt haben, als stünde er mit einem Bein bereits in der Hölle. Vielleicht hatte er auch befürchtet, er könnte von einem seiner Liebhaber auf der Straße wiedererkannt oder gar erpresst werden, was nicht nur
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