Uferwechsel
übertrumpft und die meisten Bewohner waren eine knappe Fingerbreite davon entfernt, sich alle materiellen Wünsche erfüllt zu haben, die sie je gehegt hatten. Abgesehen davon, dass sie ohnehin schon mehr besaßen und es ihnen besser ging, als dem großen Rest der Weltbevölkerung.
Ich hatte irgendwo gelesen, dass im Südseestaat Vanuatu angeblich die glücklichsten Menschen der Welt lebten, was natürlich die komplexe Frage aufwarf, was es denn zum Glück wirklich brauchte. Und was manchen Schweizern dazu fehlte. Leider blieb mir keine Zeit, sie gründlich zu beantworten, denn erstens bekam ich meinen Kaffee ausgehändigt, zweitens drängte es mich zurück in den Park, wo ich laut Anweisung auf mein Date warten sollte. Manchmal musste man eben Prioritäten setzen.
Ich nahm wieder meinen Platz auf der eisig kalten Bank ein und während ich den Latte macchiato schlürfte, überflog ich auf meinem Handy die neusten Nachrichten. Ein reißerischer Bericht über Nils erschien ganz zuoberst auf der Liste, er beschäftigte sich jedoch nur oberflächlich mit dem Drogentod des Castingshowteilnehmers und setzte ihn lieber in Verbindung zu anderen, weit berühmteren Opfern aus der Musikszene. Im gleichen Atemzug mit Janis Joplin, Jimi Hendrix, Amy Winehouse und Whitney Houston erwähnt zu werden, darüber hätte sich Nils sicher gefreut. Wäre bloß der Kontext nicht gewesen.
Weiter unten entdeckte ich einen kleineren, etwas bizarren Bericht über den Mann, der vom Himmel fiel , wie Said in der Presse noch immer genannt wurde. Das größte Problem schien nun zu sein, wer für die Bestattung aufzukommen hatte, wenn die Akte in Kürze geschlossen würde. Normalerweise war in vergleichbaren Fällen die Gemeinde zuständig, auf deren Boden die Leiche gefunden wurde, doch diese hier hatte die Verantwortung weit von sich gewiesen, da nicht exakt geklärt werden könne, wo der Mann gestorben sei. Daraufhin hatten sich Hilfswerke eingeschaltet, um die anfallenden Kosten zu übernehmen, wogegen sich die Gemeinde postwendend wehrte, wahrscheinlich weil ihr die eigene Knausrigkeit dann doch peinlich war. Eine traurige Farce. Laut dem Artikel war noch völlig offen, wo Said seine letzte Ruhe finden würde.
Ich war so vertieft in meine Lektüre, dass ich die knirschenden Schritte erst hörte, als sie direkt hinter mir vorbeigingen. Ruckartig wandte ich mich um, konnte aber nur eine weibliche Gestalt erkennen, die auf dem Gehsteig Richtung Tramhaltestelle eilte. Ein Fehlalarm, trotzdem schlug mein Herz bis zum Hals.
Ich erhob mich, platzierte meinen Becher auf der Sitzfläche der Bank und stapfte auf der Stelle, um mich wenigstens ein bisschen aufzuwärmen.
In dem Moment sah ich ihn. Er stand auf der gegenüberliegenden Seite der Parkanlage, auf dem Gehsteig, halb verborgen hinter einem der Bäume. Ein Schatten, der beinahe mit demjenigen des Baumstammes verschmolz, doch als ihn jetzt ein Lichtkegel eines vorbeifahrenden Wagens streifte, waren seine Umrisse einen Wimpernschlag lang deutlich auszumachen. Der Mann rührte sich nicht und schien mich zu beobachten.
Zaghaft hob ich die Hand zum Gruß, da ich nicht wusste, welches Verhalten in einer solchen Situation angebracht war, doch mein Blind Date reagierte nicht darauf. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging quer über die zugeschneite Rasenfläche auf ihn zu, worauf er hinter dem Baum hervortrat. Er war groß gewachsen und schlank, den Kragen seines Mantels hatte er hochgeschlagen wie Humphrey Bogart. Sein Gesicht zeichnete sich in der Dunkelheit nur schemenhaft ab. Glatt rasierte Wangen, ein markantes Kinn, mehr war nicht zu erkennen.
Der Mann schien auf mich zu warten, seine Körperhaltung blieb jedoch angespannt. Ich war beinahe bei der hüfthohen Hecke angelangt, welche den Park vom Gehsteig trennte, als vor dem griechischen Restaurant auf der anderen Straßenseite ein Auto aus einer Parklücke kurvte und mitten auf der Fahrbahn wendete. Geblendet vom grellen Scheinwerferlicht kniff ich die Augen zusammen. Als ich sie wieder aufriss, war der Mann wie vom Erdboden verschluckt.
Mit einem gewagten Sprung setzte ich über die Hecke hinweg und erhaschte gerade noch einen Blick auf seinen flatternden Mantel. Die Farbe des Kleidungsstücks ließ mich zusammenfahren. Erst glaubte ich, mich geirrt zu haben, doch dann sah ich den Mann am oberen Ende der Parkanlage, bevor er zwischen zwei Häuserzeilen verschwand. Jetzt bestand kein Zweifel mehr, wer mein Internetdate war.
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