Uli Borowka - Volle Pulle: Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker (German Edition)
furchtbar. Die Kleine musste mit einem Krankenwagen abgeholt und notoperiert werden. Wie der Teufel jagte ich nach Carmens Anruf über die Autobahn und hielt erst an, als ich den Parkplatz des Krankenhauses erreicht hatte. Nach der OP hatte man sie auf die Intensivstation gebracht, ihr Leben hing buchstäblich am seidenen Faden.
Jeder, der selbst Kinder hat, wird sich vorstellen können, wie Carmen und ich litten. 48 Stunden lang saß ich an Irinas Bett und verfolgte voller Panik die Geräusche der Apparate in ihrem Zimmer. Mitten in der Nacht bemerkte ich einen rötlichen Ausschlag in ihrem Gesicht und rief die Schwester. Sie behauptete, das sei nicht weiter problematisch, alles ganz harmlos, doch ich forderte das Urteil eines Arztes. »Der Doktor schläft gerade«, sagte die Schwester. »Dann machen Sie ihn wach, sonst nehme ich Ihnen den Laden auseinander«, antwortete ich. Und tatsächlich: Irina reagierte allergisch auf ein Antibiotikum, und nachdem der Arzt die Medikamente gewechselt hatte, verschwand auch der Ausschlag. Endlich, am nächsten Morgen, kam sie wieder zu sich, das kleine Geschöpf hatte die Anstrengungen der OP überstanden. Irina wurde wieder gesund. Wenigstens ein Lichtblick in diesen dunklen Monaten.
Meine Zeit in Hannover war vorbei. Ohne ein einziges Ligaspiel im Gepäck verschwand ich wieder aus Niedersachsen. Doch noch immer war meine Karriere als aktiver Fußballer nicht beendet, auch wenn ich damals bereits als Schwerstalkoholiker bezeichnet werden musste. Der kleine Kosmos Fußball hatte mich noch immer nicht aufgegeben. Nur wenige Tage nach der Trennung von Hannover 96 kontaktierte mich Jakub Andreas Grajewski, ein umtriebiger Manager mit Kontakten in die Boxszene und zum polnischen Fußball. Widzew Lodz suchte einen Verteidiger für die Rückrunde, Grajewski brachte mich ins Spiel. Und dann ging alles sehr schnell: Innerhalb von wenigen Tagen hatte ich einen Vertrag mit Lodz bis zum Saisonende unterschrieben und ein Hotelzimmer in der Innenstadt von Lodz bezogen. Mittlerweile griff ich nach jedem Strohhalm, den man mir anbot. Und Widzew war so ein Strohhalm.
Ein Deutscher im polnischen Fußball? Das war schon eine Seltenheit. Aber ich war ja nicht in die saudische Wüste gewechselt, sondern zu einem Traditionsverein, der in der Saison zuvor noch Champions League gespielt und dort in der Gruppenphase unter anderem dem späteren Sieger aus Dortmund einen Punkt abgetrotzt hatte. Trainer war kein geringerer als Franciszek Smuda, der Mann, der Polens Nationalmannschaft bei der EM 2012 im eigenen Land anführte.
Ich begriff schnell, dass Smuda ein hervorragender Fachmann war. Und auch die Mannschaft war äußerst talentiert. In Lodz machte mir das Fußballspielen endlich wieder Spaß. Aber auch nur das. Mein Leben außerhalb des Rasens beschränkte sich auf acht potthässliche Quadratmeter Hotelzimmer, das hoteleigene Spielkasino und einen Irish Pub in der Lodzer Einkaufsstraße, der schnell zu meiner Stammkneipe wurde. Meistens hielt ich es abends vor lauter Einsamkeit und Langeweile nicht aus, verprasste ein paar Zloty im Spielkasino und versackte anschließend im Irish Pub. Weil ich kein Wort Polnisch sprach, bestellte ich jedes Mal die gleiche Anzahl Bier beim Wirt: »dwanascie«, zwölf, meine Rückennummer …
Regelmäßig fanden in meinem neuen Zuhause Misswahlen statt. Scheinbar übte ich als deutscher Fußballer eine besondere Wirkung auf die hübschen Mädchen aus, die an diesen Wahlen teilnahmen. Nicht selten legte mir eine der Damen einen Zettel mit der Aufschrift »I want you« auf den Tisch, Steilvorlagen, die ich mir meistens nicht entgehen ließ. Wie es so ist mit seelenlosem Sex – anschließend fühlte ich mich nur noch einsamer und verlorener. Lediglich der Alkohol schaffte es, die trüben Gedanken für ein paar Stunden in Luft aufzulösen.
Sportlich war Lodz eine durchaus reizvolle Erfahrung. Ich machte insgesamt sieben Spiele in der Rückrunde und konnte dazu beitragen, dass Widzew die Meisterschaft eintütete. Dennoch: Wenn die Wirkung des Alkohols verflog, zeigte sich mir das ganze Grauen. Dann kamen die Fragen, Fragen, die mit jedem Wort in meinem Schädel brannten wie Feuer. Wie kam ich hierhin? Als Deutscher zum polnischen Fußball? In mein verschissenes kleines Hotelzimmer? In eine Stadt, die auf mich so trostlos wirkte, dass selbst die 100. Misswahl nicht darüber hinwegtrösten konnte? Es kotzte mich alles nur noch an.
Noch vor dem letzten Spieltag
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