Uli Borowka - Volle Pulle: Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker (German Edition)
lag (und liegt) direkt an der Sonnenallee, nicht weit entfernt von meiner Wohnung. Am Abend vor dem Spiel saß ich mit Balli auf dem Sofa. Irgendwann wurde es mir zu langweilig, ich erinnerte mich an eine Einladung vom Vortag: »Balli, lass uns doch mal zu dem Geburtstag gehen. Ich versprech dir auch, nur ’ne Stunde!« Mit dem Hinweis auf das Spiel am nächsten Morgen wollte mich Balli zurückhalten, doch gegen meinen Drang, noch einmal aus dem Haus zu gehen, hatte er keine Chance. Es kam, wie es kommen musste: Aus der angekündigten Stunde wurde eine ganze Nacht. Um sechs Uhr morgens ließ mich Balli wütend alleine zurück, erst um neun Uhr torkelte ich in meine Bude zurück. Balli wartete schon auf mich. Entsetzt versuchte er mich mit Kaffee wieder einigermaßen aufzupäppeln oder zumindest die deutliche Alkoholfahne zu überdecken, doch das gelang ihm mehr schlecht als recht. Besoffen und übermüdet fuhr ich zum Sportplatz. 800 Zuschauer wollten sich den Auftritt des ehemaligen Deutschen Meisters nicht entgehen lassen. Selbst meine Eltern waren extra aus der Heimat zu Besuch gekommen, um ihren Sohn wieder Fußball spielen zu sehen. Es wurde ein Trauerspiel: Sichtlich gezeichnet schlurfte ich wie ein Geist über den Rasen und verletzte mich nach gut einer halben Stunde zu allem Übel auch noch schwer am Meniskus und musste ausgewechselt werden. Schockiert und sprachlos saßen meine Eltern auf der Tribüne und schauten mir hinterher, als ich in die Kabine humpelte. Ich habe nie wieder ein Spiel für Tasmania Berlin bestritten.
Was nicht heißen soll, dass ich sofort wieder aus Berlin verschwand. Mir gefiel es hier. Mit Balli hatte ich einen echten Freund gefunden, der nicht nur Gott und die Welt kannte, sondern auch keine Verbindung zu meinem alten Leben hatte. Ich versuchte zwar weiterhin in unregelmäßigen Abständen bei meiner Frau und den Kindern anzurufen, aber die Versuchung, mich spontan, wenn mich die Sehnsucht überkam, einfach ins Auto zu setzen und ins Rheinland zu fahren, war in Berlin naturgemäß geringer. Die Berliner Partyszene hatte mich in ihrer Mitte aufgenommen, hier interessierte es niemanden, ob ich besoffen war oder nicht, ob ich Probleme hatte oder nicht. Hier interessierte sich jeder für sich selbst. Eine Umgebung wie geschaffen für mich! Eine Zeit lang blühte ich förmlich auf. Ich schlief den halben Tag, bis mich Balli abholte und wir uns für den nächsten nächtlichen Ausflug vorbereiteten. Gut gelaunt schmetterte ich dann meinen Lieblingssong von Queen, während Balli schon mal den Wagen vorfuhr: ein orangefarbener und ziemlich ramponierter VW-Bus, mit dem wir quer durch Berlin kurvten. Nicht selten saß ich am Steuer, mit reichlich Promille im Blut und ohne Führerschein. Mit unserem Bus selbst kleinste Parklücken zu füllen, erhoben wir zum sportlichen Wettkampf. Dutzende Berliner Stoßstangen mussten dafür dran glauben.
Wie ein Sonnenkönig verschleuderte ich mein Geld in Kneipen, Clubs und Spielkasinos. Wir soffen, wir zockten, wir hurten herum. Die vielen schönen Frauen und der Alkohol vernebelten mir Abend für Abend die Sinne. Ich lebte nur noch von Party zu Party. Es war ein Leben ohne Sinn und Verstand. Frei wie ein Vogel und doch nur erbärmlich. Dabei hatte ich noch das Glück, mit Balli einen echten Beschützer an meiner Seite zu haben. War ich bei den ersten Bieren noch ein geselliger Spaßvogel, konnte meine Laune spätestens nach den ersten Schnäpsen schnell ins Gegenteil kippen. Dann brauchte mir nur einer einen schiefen Blick zuwerfen, schon zog ich mir das Sakko aus und suchte den Nahkampf. Kein Zweifel: Der Alkohol veränderte mich. Wenn Balli nicht gewesen wäre, hätte ich mir sicherlich noch häufiger eine blutige Nase geholt.
Aus heutiger Sicht ist mein damaliges Wesen für mich nicht mehr zu verstehen. Ich war doch mit gewissen Werten erzogen worden und aufgewachsen. Harte Arbeit. Höflichkeit. Anstand. Zucht und Ordnung. Werte, die ich danach längst über den Haufen geschmissen hatte, die ich entsorgt hatte wie Müll. In Berlin verschwand mein Leben endgültig in der Bedeutungslosigkeit. Ich war zu einem Menschen mutiert, der ich nie hatte sein wollen.
Meine Zeit als Spieler von Tasmania Berlin war dementsprechend bald beendet. Kurz vor dem endgültigen Abgang sorgte ich noch für ein weiteres »Highlight«. Als am 10. August 1996 am Hamburger Millerntor der WM-Kampf zwischen Dariusz Michalczewski und Graciano Rocchigiani stieg, musste ich als
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