Uli Borowka - Volle Pulle: Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker (German Edition)
der Nationalspieler, vor allem natürlich die Offensivspieler, bekämpfte ich seit Jahren bis aufs Blut. Klar, dass Olaf Thon, Jürgen Klinsmann oder Rudi Völler nicht in Jubelstürme ausbrachen, als sie mich sahen. Immerhin: Franz Beckenbauer, mein neuer Boss, war äußerst entspannt, als er mich in der Sportschule begrüßte: »Schön, dass du da bist, Uli.«
Vor gerade einmal 25000 Zuschauern im Berliner Olympiastadion verloren wir gegen Schweden mit 3:5 nach Elfmeterschießen. Ich saß wie erwartet nur auf der Tribüne. Zu später Stunde lag ich in meinem Zimmer, einem Einzelzimmer, als mich der Heißhunger übermannte. Dringend brauchte ich jetzt etwas Herzhaftes, also orderte ich per Telefon in der Küche einen großen Teller Sülze mit Bratkartoffeln. Sportlernahrung sieht anders aus. Das fand auch Fritz Westermann, Chefkoch des DFB, der dummerweise am anderen Ende der Leitung war. Westermann wäre beinahe durch den Hörer gekrochen und bekam sich vor Wut über so viel Dummheit gar nicht mehr ein. Kleinlaut nahm ich meine Bestellung zurück und versuchte mit knurrendem Magen einzuschlafen.
Als ich am nächsten Morgen zum Frühstück stiefelte, war die Stimmung miserabel. Mit frostiger Miene gab Franz Beckenbauer bekannt, nach dem Essen eine wichtige Besprechung abhalten zu wollen. Ich verschluckte mich fast an meinem Brötchen. An der Niederlage gegen Schweden konnte es nicht liegen, dass der Teamchef so schlecht gelaunt war, dafür war dieses Turnier einfach zu unwichtig. Es konnte nur einen Grund für dieses kurzfristig anberaumte Krisengespräch geben: Meine Bratkartoffelbestellung mitten in der Nacht! Chefkoch Westermann musste es Beckenbauer gesteckt haben, jetzt war ich dran. Warum musste ich mich auch so idiotisch benehmen, gleich in der ersten Nacht als Nationalspieler! Wie ein geprügelter Hund schlich ich zur Besprechung – und war heilfroh, dass sich einige meiner Mitspieler einen noch viel größeren Bock geleistet hatten. Nach dem Schweden-Spiel hatte offenbar eine Gruppe den Busfahrer bestochen und den Mann genötigt, sie mit dem Mannschaftsbus in den berühmten Berliner Nachtclub »Bel Ami« zu kutschieren. Hübsch herausgeputzt in den offiziellen DFB-Trainingsanzügen hatten es die Kollegen ordentlich krachen lassen. »Jeder schlägt mal über die Stränge«, begann Franz seine Standpauke, »aber was ihr euch hier geleistet habt, übersteigt meinen Verstand. Wie kann man nur so dämlich sein?«
Meine Herren, das konnte ja was werden. In den wenigen Tagen als Nationalspieler hatte ich mir schon zweimal den Marsch blasen lassen müssen, einmal, im Falle des »Bel Ami«-Skandals, allerdings zu Unrecht. Und nun sollten wir morgen, am 2. April 1988, gegen den amtierenden Weltmeister antreten. Maradonas Argentinier! Es klingt verrückt, aber ausgerechnet diese Nachtclubgeschichte spielte mir in die Karten. Gleich nach seiner Brandrede nahm mich Beckenbauer zur Seite. »Uli«, fragte Franz, »kannst du auf links gegen Caniggia spielen?« Er meinte Claudio Caniggia, den argentinischen Stürmer mit der langen blonden Zottelwolle. Ich machte mir vor Aufregung beinahe in die Hose, aber ich war noch geistesgegenwärtig genug, um ein schnelles »Natürlich, Trainer« rauszupressen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits diverse Pokalschlachten geschlagen, mehr als 120 Bundesligaspiele bestritten, war für Borussia Mönchengladbach durch Europa gegrätscht – aber das hier war ein anderes Kaliber. In meinem ersten Länderspiel sollte ich gleich gegen die beste Mannschaft der Welt antreten! Wie ein frisch Verliebter, der allen von seinem neuen Glück berichten möchte, rief ich nacheinander meine Frau, meine Eltern und meine Freunde an, um ihnen die sensationelle Neuigkeit mitzuteilen.
Allein lag ich später in meinem Zimmer und starrte an die Decke. Als wenn mir ein durchschnittlich begabter Drehbuchautor eine Filmsequenz zusammengeschnitten hätte, rief ich mir in Gedanken all die Erinnerungen der vergangenen Jahre auf: Den Bolzplatz vom FC Oese, das missratene Trainingslager 1974, meine ersten Gehversuche in Mönchengladbach – und dann kamen die Fragezeichen. Würde ich mich auch nicht blamieren? Nicht beim Einlauf ins Stadion stolpern? Bei der Nationalhymne allzu dämlich grinsen? Und überhaupt: Wie sollte ich Caniggia ausschalten? Der Kerl war zwar vier Jahre jünger als ich, lief aber angeblich die 100 Meter unter elf Sekunden! Außerdem hatte er noch zehn Weltmeister an seiner Seite,
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