Uli Borowka - Volle Pulle: Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker (German Edition)
Adern fließt und nach und nach jede Zelle des Körpers lähmt.
Am ersten Trainingstag der Saison 1993/94 durften wir einen Neuzugang begrüßen. Der Mann hieß Mario Basler. Er trug einen Oberlippenbart, war dünn wie ein Strich und rauchte wie ein Schlot. Das gefiel mir schon mal. Und noch viel mehr, was er beim Training mit dem Ball anstellte. Bis heute habe ich nur wenige Fußballer gesehen, die so talentiert waren wie Mario – und gleichzeitig dem Begriff des »schlampigen Genies« so sehr alle Ehre machten. Mario war für den Trainer, Spielervater, Pädagogen und Psychologen Rehhagel eine echte Herausforderung. Doch irgendwie schaffte es Otto, auch diesen verrückten Vogel in unsere Mannschaft zu integrieren, ohne dauerhaften Ärger zu provozieren. Mario hatte das Glück, dass er in Bremen auf eine ziemlich ausgekochte Mannschaft traf, wir hatten schon zu viel gesehen, um uns über seine Extrawürste zu beschweren. Schließlich wussten wir genau wie unser Trainer: An guten Tagen konnte dieser Kerl Spiele alleine gewinnen.
Also nahmen wir es mit Humor, als Mario schon in seiner ersten Woche in Bremen zu spät zum Training erschien. »Mario«, schimpfte Rehhagel, »ich kaufe Ihnen einen Wecker!« »Trainer, die Ampeln standen dauernd auf Rot«, antwortete Mario, nur um zwei Tage später erneut zu spät auf dem Trainingsgelände aufzuschlagen. Bei jedem anderen Spieler wäre Otto wohl ausgerastet, doch gerade als er zu seiner Standpauke ansetzen wollte, rief Mario: »Trainer, ich bin nur eine Minute zu spät! War doch diesmal ziemlich knapp …« Wir schmissen uns weg, und auch Otto musste schmunzeln.
Jeder Fußballer tickt anders. Ich musste als junger Spieler gedrillt werden wie ein Elitesoldat, um meine Leistung abzurufen. Gute Trainer wissen, wie sie mit einem Spieler umgehen müssen und wie nicht. Otto Rehhagel war und ist ein guter Trainer. Er hielt auch dann noch die schützende Hand über Mario, als der sein Vertrauen längst missbrauchte. Das hört sich schlimmer an, als es war, denn dafür hielt er Mario bei Laune. Und ein gut gelaunter Mario Basler war ein besserer Fußballer als fast jeder andere in der Bundesliga. Wir Spieler hatten jedenfalls immer was zu lachen. Eine Zeit lang ließ er Otto so sehr aus seiner Hand fressen, dass wir ihn regelrecht bewunderten: Weil er angeblich ein »Loch in der Leiste« hatte, nötigte Mario Rehhagel die Zusage ab, drei Monate lang nur am Freitag zum Abschlussspielchen zu erscheinen. Nur so, erklärte Mario, sei er am Wochenende auch zu 100 Prozent einsatzfähig. Die übrigen Tage wolle er leichtes Training in der Reha durchziehen. Während wir also jeden Morgen ab zehn Uhr auf dem Trainingsplatz standen, kam Mario meistens gegen zehn nach zehn mit seinem Auto vorgefahren, eine Kippe zwischen den Fingern. Er grüßte uns grinsend und raste dann mit quietschenden Reifen vom Hof. Am Spieltag stand er dann, oh Wunder, kerngesund in der Startelf und zeigte der Welt seine Fähigkeiten.
Weil Mario auch nach getaner Arbeit gerne noch einmal das Haus verließ, freundeten wir uns bald an. Ich zeigte ihm die Bremer Kneipenlandschaft, er spendierte mir zum Dank ein paar Drinks. Das »Jimmy’s« wurde bald unser Stammlokal. Wenn ich Stress mit Carmen hatte, dann konnte ich meistens auf Mario als Thekenbruder zählen. Bei ein paar Bier, weit weg von zu Hause, ließen sich meine Probleme vortrefflich vergessen. Eine schnelle Flucht an den Zapfhahn war einfacher, als sich dem Ärger zu stellen.
Aus sportlicher Sicht hatte die Saison für mich – jedenfalls im Vergleich zu den Vorjahren – nur selten etwas Spektakuläres zu bieten. Als amtierender Meister wurden wir unseren Ansprüchen nur elf Spieltage lang gerecht. Nach einer Serie von sieben Spielen ohne Sieg rutschten wir bis zur Winterpause ins Mittelfeld der Tabelle ab, mit der Deutschen Meisterschaft würden wir in diesem Jahr nichts zu tun haben.
Und auch in der 1992 gestarteten Champions League, die an die Stelle des Europapokals der Landesmeister trat, ging uns nach einem guten Beginn bald die Puste aus. Nach Siegen gegen Dinamo Minsk und Levski Sofia erreichten wir das Viertelfinale, das damals noch in einer Gruppenphase ausgespielt wurde. Das erste Spiel verloren wir mit 2:3 gegen den FC Porto. Am zweiten Spieltag standen wir gegen den RSC Anderlecht also bereits ziemlich unter Druck.
Der 8. Dezember 1993, schon wieder so ein Wunder.
Die ersten 45 Minuten waren ein einziges Desaster. Es regnete, der
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