Uli Borowka - Volle Pulle: Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker (German Edition)
der sich gerade für die Leichtathletik-WM aufhübschte, waren es gefühlte 45 Grad. Eine so drückende und schwüle Hitze hatte ich selbst bei meinen Ausflügen nach Ägypten oder Dschibuti nicht erlebt. Zwei kurze Sprints reichten, um bereits klitschnass geschwitzt zu sein. In meinen Stutzen, nagelneue Dinger, hatte ich das Gefühl, dass meine Waden jederzeit platzen würden. Mit einer Nagelschere schnitt ich mir Luftlöcher hinein, doch auch das half nicht viel.
Meinen Mitspielern ging es nicht anders. Der erste Pass war noch nicht gespielt, da pfiffen wir alle bereits aus dem letzten Loch. Doch für derlei Kleinigkeiten hatten wir keine Zeit, wer Deutscher Meister werden will, muss leiden. Fit genug waren wir allemal, einzig die Nerven konnten uns noch einen Strich durch die Rechnung machen. Machten sie zum Glück aber nicht. Kühl – zumindest im Kopf – und konzentriert machten wir uns an die Arbeit, und als Bernd Hobsch und Thomas Wolter kurz nach der Pause trafen, war unser Spiel gegen Stuttgart so gut wie gelaufen. Diese Mannschaft würde gegen uns nicht mehr gewinnen können, das war klar. Alle Gedanken gingen nun nach Gelsenkirchen, wo die Bayern schon einen Kantersieg gegen Schalke benötigten, um uns noch zu überholen.
Die 74. Minute. Wieder setzte sich der »Hobscher« durch und erhöhte auf 3:0. Was sollte uns jetzt noch passieren? Mit einem Bein stand ich auf dem Platz, mit dem anderen neben der Seitenlinie, um die nötigen Informationen aus Gelsenkirchen mitzubekommen. Unsere komplette Ersatzbank hatte sich um das Radio geschart, irgendwer brüllte die Ereignisse dann Richtung Rasen. Zeitgleich mit Bernd Hobsch hatte auch Lothar Matthäus ein Tor erzielt, 2:2 auf Schalke. Das musste doch reichen! Jetzt benötigten die Bayern sechs Tore, um uns noch einzufangen. Das war doch eigentlich unmö… 76. Minute, 3:2 Bayern, Jan Wouters. Eklige Zweifel krochen mir in den Nacken.
Die Minuten vergingen. »Was passiert auf Schalke«, brüllte ich. »Noch 3:2 für Bayern!«
86. Minute. »Tor für Schalke! Tor für Schalke! 3:3!« Vier Minuten später war die Saison 1992/93 vorbei. Wir waren Meister! Und jetzt tickten alle komplett aus.
Ich vergaß die Hitze und Stuttgart und Schalke und Bayern und 34 Spieltage und hüpfte wie ein Blöder über den Rasen. Thorsten Legat lief mit nacktem Oberkörper die erste Ehrenrunde, ein schweißglänzender Muskelberg außer Rand und Band. Manni Bockenfeld und Andy Herzog stellten sich vor die Kurve und tanzten einen Walzer, der Werder-Bremen-Meisterwalzer. Wir ersoffen fast vor Glück.
Was ist eigentlich Glück? Das Gefühl, sein neugeborenes Kind im Arm zu halten? Das Gefühl, die beste Mannschaft Deutschlands zu sein? Ein flüchtiges Gefühl oder ein Dauerzustand? Zum Glück bin ich Fußballer geworden und kein Philosoph, so muss ich mich wenigstens nicht schämen, die Antwort auf diese Frage nicht zu kennen. Ich weiß nur eines: Als ich am späten Abend des 5. Juni 1993 auf dem Fußboden unseres Mannschaftsbusses lag, die Haare nass von Bier und Schweiß, meine Mitspieler neben mir, die Meisterschale in der Hand – da war ich glücklich. Da fühlte ich mich so, wie ich mich immer fühlen wollte. Da konnte ich noch nicht wissen, wie viel Scheiße mir das Leben noch bringen würde.
Da lebte ich einfach für diesen Moment.
AM TRESEN MIT MARIO BASLER
Nie würde es wieder so schön werden wie im Sommer 1993. Das konnte ich damals natürlich noch nicht wissen. Inzwischen war ich 31 Jahre alt, zweifacher Deutscher Meister, Pokalsieger, Europapokalsieger, Nationalspieler und EM-Teilnehmer. Das war mehr, als ich mir vor zehn Jahren hätte träumen lassen. Ich hatte eine schöne Frau und zwei gesunde Kinder. Ein großes Haus. Drei Autos vor der Tür. Ich hatte Geld auf dem Konto und einen Stammplatz beim amtierenden Deutschen Meister. Ich hatte Freunde. Ich war beliebt. Ich war auf dem Höhepunkt meiner Karriere.
Und jetzt ging es bergab.
Ich stürzte nicht von heute auf morgen in ein tiefes Loch. Ich soff mich auch nicht plötzlich jeden Abend voll und tauchte betrunken beim Training auf. Ich griff auch nicht meine Frau an oder vernachlässigte meine Kinder. Ich war immer noch ein guter Fußballer und Vater und bestimmt auch noch ein anständiger Ehemann und Freund.
Nein, in der Saison 1993/94 war eigentlich noch alles in bester Ordnung. Doch der Abstieg, sportlich und privat, hatte begonnen. Ganz langsam, schleichend und unmerklich. Wie Gift, das durch die
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