Ulrich Kienzle und die Siebzehn Schwaben: Eine Reise zu eigenwilligen Deutschen (German Edition)
Wohnzimmer in einen kleinen Garten hinter dem Haus. Hier ist der Lärm der Bagger kaum noch zu hören.
FRAU DÄUBLER-GMELIN, vor Kurzem war ich bei Erhard Eppler. Er sagt, Sie entstammen einer ganz alten schwäbischen Familiendynastie.
Ja, von meinem Vater her. Meine Mutter kommt von der Nordsee. Ich bin also höchstens eine Halbschwäbin.
Dabei gelten Sie als Urschwäbin und werden auch in den Medien immer als Urschwäbin beschrieben.
Na ja, ich bin halt hier in Schwaben aufgewachsen, deshalb ist meine Prägung schwäbisch. Außerdem hat mein schwäbischer Dialekt einen hohen Wiedererkennungswert. Das ist nützlich für eine Politikerin. Aber auch meine Mutter hat unseren Dialekt schnell angenommen: Sie hat bald genauso geschwäbelt wie wir alle hier.
Das spricht doch für die Prägungskraft des Schwäbischen?
Eindeutig! Schwaben halten auch zusammen. Als ich in Berlin studierte, behauptete mein Vater immer, freilich nur halb im Ernst, seine größte Sorge sei, ich könne womöglich einen Preußen heimbringen. Das tut ein anständiges Schwabenmädle aber natürlich nicht. Und so ist mein Mann waschechter Schwabe, allerdings in Berlin geboren.
Die Gmelins gehören zur Elite Württembergs.
Die Familie meines Vaters ist schon seit ein paar Hundert Jahren hier. Sie gehörte zur früheren »Ehrbarkeit« 1 Württembergs, unter meinen Vorfahren sind württembergische Beamten, etwa Landräte, die früher Oberamtsräte hießen, Pfarrer und Naturforscher ziemlich stark vertreten. Auch in der alten Tübinger Universität finden Sie Generationen von – männlichen – Gmelin-Professoren; die Töchter wurden häufig zusammen mit den Lehrstühlen an Schwiegersöhne weitergereicht.
War es Ihre Absicht, diese Phalanx der Männer zu durchbrechen?
Eine echte Männerfrage, lieber Herr Kienzle. Frauen meiner Generation haben durchaus schon eigenständige Lebenspläne entwickelt. Aber die schwäbisch-protestantische Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, hat ganz selbstverständlich Leistungsstandards gesetzt und die unausgesprochen auch von jedem verlangt – von Frauen und Männern.
Was sind denn diese schwäbischen Standards?
Dass man sich anstrengen muss, dass man gefälligst was aus seinem Leben zu machen hat, dass man Begabung, Zeit und Ausbildung nicht vergeudet. Und dass man anständig ist und seine Verantwortung wahrnimmt – für sich und seine Familie, und natürlich auch für das Gemeinwesen. Das gehört alles dazu.
Und das hat mit Ihrer Familientradition zu tun?
Ich denke ja. Aber auch mit dem ganzen Ambiente hier in Tübingen, wohl in ganz Schwaben. Ich habe diese Haltung bei vielen anderen bemerkt, die aus einem ähnlichen Milieu kommen. Übrigens keineswegs nur bei Akademikern.
Daneben gibt es aber auch das verhängnisvolle pietistische Erbe. Lange waren die Pietisten für die Leitkultur im Schwäbischen zuständig.
In meinem familiären Umfeld ist eine andere Tradition stärker. Ich will sie altliberale Offenheit nennen. Wir sind skeptisch gegenüber allem, was Sie mit »-istisch« bezeichnen würden. Wir legen großen Wert auf Werte und praktische Bodenständigkeit, sind dabei aber unbedingt »weltoffen«. Diese Mischung finden Sie viel hier in Schwaben, nicht nur in meinem familiären Hintergrund. Werte, Offenheit und Distanz zu Fanatikern – alles das sollte auch die Politik prägen. Gerade auch die der Sozialdemokratie!
Und trotzdem gibt es bis heute diese Barriere: Die meisten Schwaben wählen keine Sozis. Ist das nicht ein Widerspruch?
Diese Entwicklung hat viel mit anderen Ereignissen der württembergischen Geschichte zu tun. Aber es ist schon richtig: Wir Schwaben vereinigen gelegentlich Widersprüche in uns, die sich in unserem großen Vaterland sonst nicht vertragen. So haben wir eine kämpferische und starke IG-Metall, die immer wieder Musterregelungen für ganz Deutschland erkämpft, z. B. vorbildliche Tarifverträge, früher auch die 40-Stunden-Woche – und das mithilfe von schwäbischen Arbeitern, die daheim in ihrem Ort möglicherweise CDU wählen …
Aber das ist doch hochgradig schizophren!
Das ist nicht schizophren – das ist einfach schwäbisch! Bei den Schwaben geht halt eine ganze Menge zusammen, was anderswo nicht geht. Das ist eine Sache, die muss man dann halt mögen, wenn man hier lebt. Ich finde das spannend.
Mit diesen Widersprüchen muss man leben?
Mit denen muss man leben. Mit denen kann man auch leben und zwar fröhlich. Ich fühle mich hier sehr wohl, auch wenn
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