Ulrich Kienzle und die Siebzehn Schwaben: Eine Reise zu eigenwilligen Deutschen (German Edition)
das Wandern. Eine besonders schwäbische Leidenschaft. Für Ihre türkischen Landsleute etwas völlig Unverständliches. Die denken: Es wandern nur Leute, die sich kein Auto leisten können?
In den ländlichen Gegenden der Türkei ist man immer sehr viel zu Fuß gegangen – von einem Dorf zum nächsten, die Kinder mussten lange Fußmärsche machen zur Schule. Es stimmt, viele fragen sich: »Wie – du gehst ohne Ziel? Warum? Einfach so in der Gegend herumlaufen?«
Diese kulturellen Unterschiede gibt es einfach. Dazu gehört auch mein Beruf: Ich habe Sozialpädagogik studiert und davor Erzieher gelernt – für meine Eltern anfangs völlig unverständlich. Wenn sich früher die Mütter gegenseitig gefragt haben: »Was macht denn dein Sohn beruflich?« Da hat die eine geantwortet: »Mein Sohn studiert, er wird einmal Arzt.« Die anderen sagten: »Kfz-Mechaniker oder Ingenieur«. Aber meine Mutter musste immer antworten: »Mein Sohn spielt mit kleinen Kindern.« Das klang wie: Der hat’s nicht einmal zum Drogendealer gebracht!
(Beide lachen.)
Meine Eltern haben meinen Beruf lange nicht verstanden.
Mit dem Wandern und Ihrem Beruf begann die kulturelle Entfremdung von Ihren türkischen Landsleuten?
In der Türkei ist alles, was deutsch ist, ein Synonym für Qualität. Für Erfolg und Verlässlichkeit. Wenn im Fernsehen ein Produkt gepriesen werden soll, wird deutsch gesprochen. Für meine Eltern war Deutschland immer das perfekte Land. Deshalb haben sie überhaupt nicht begriffen, dass ich zu den Grünen gegangen bin. Die sind doch gegen die Regierung! Wie kann man gegen die Regierung eines Landes sein, in dem alles in Ordnung ist? Meine Eltern haben fest daran geglaubt, ich werde eines Tages verhaftet.
Dabei sind die Grünen doch die neuen Konservativen.
(Er lacht.)
Das sind sie doch – unbestritten!
Ich halte das für ein Gerücht.
Die jungen konservativen Wähler gehen nicht zur SPD – sondern zu den Grünen!
Ich finde, das ist das Schöne in Baden-Württemberg. Der Kretschmann ist ein Symbol dafür. Auch ich bin so aufgewachsen. Für mich ist Grün links, liberal und wertkonservativ – das alles speist uns. Wir erhalten und bewahren, was erhaltens- und bewahrenswert ist. Liberal sind wir nicht im Sinne der FDP, sondern im Sinn von bürgerrechtlich. Und links im Sinne von emanzipatorisch und in Bezug auf Chancengerechtigkeit und Partizipation.
Der Schwabe sagt da: sowohl als auch?
Hier geht das. Hier schwätzt man nicht drüber. Das ist einfach normal. Bei uns in Urach haben dieselben Leute, die einen sozialdemokratischen Bürgermeister gewählt haben, auf der Landesebene früher den Filbinger gewählt. Ich habe das im Kopf nicht verstanden! Aber für die Leute war das kein Widerspruch.
Apropos verstehen – in einem Bericht des baden-württembergischen LKA 10 zu den NSU-Morden 11 heißt es: »Die Mörder müssen weit außerhalb unseres hiesigen Wertesystems zu verorten sein.« Ist das Dummheit oder Arroganz?
Es gibt ja auch Polizeibeamte in Schwäbisch Hall, die offenbar beim Ku-Klux-Klan waren. Als ich das hörte, dachte ich, ich höre nicht recht. Diese Organisation habe ich irgendwo in die USA der 1960er-Jahre verortet. Aber doch nicht hier und heute! Ich habe mit vielen Familien von NSU-Opfern Kontakt. In Dortmund erzählte mir eine Frau: Ihr Mann war, wie meine Eltern, ein großer Fan von Deutschland. »Hier kannst du den Polizisten trauen! Hier sind die Polizisten deine Freunde!« Und dann wurde er von diesen rechten Terroristen erschossen. Und seine Familie wurde wochenlang befragt und sein Umfeld verdächtigt, statt den eindeutigen Hinweisen auf den rechten Terror nachzugehen.
Hat das System?
Das glaube ich nicht. Solange das nicht bewiesen ist, bin ich fest davon überzeugt, dass diese Verbrechen nicht von irgendwelchen staatlichen Stellen gedeckt oder gar befördert wurden. Aber das Versagen von Geheimdiensten und Polizei ist doch ein Skandal. Viele Polizeibeamte haben täglich auch mit Delikten zu tun, bei denen Tatverdächtige einen Migrationshintergrund haben. Da wird dann zuallererst in diese Richtung ermittelt und alles andere ausgeblendet.
Wie Umfragen zeigen, haben die Deutschen panische Angst vor dem Islam. Ist die Angst berechtigt oder ist das bloße Hysterie?
Verrückte gibt es überall – nicht nur in Bezug auf den Islam. Dass der Islam aber in besonderer Weise ein Problem hat, darf man nicht in Abrede stellen. Das wäre auch faktisch falsch. Es ist nun mal so, dass ich
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