Ulysses Moore 6: Der erste Schlüssel (German Edition)
Jason. Tatsächlich verbarg sich hinter dem Wandteppich eine Nische. Er streckte den Arm hinein und ertastete mit den Fingerspitzen eine Schnur, die quer durch die Einbuchtung gespannt war. »Eine Schnur!«, sagte er.
»Was soll das heißen: eine Schnur?«
»Das, was ich gesagt habe«, gab Jason zurück. »Hinter diesem Wandteppich ist ein Loch und darin ist eine Schnur.«
»Aber warum ist da eine Schnur?«, fragte Julia. Eine beunruhigende Vorahnung stieg in ihr auf. »Das wird doch keine Falle sein?«
Sie sah zu dem Wandteppich hinüber: Eingewebt war ein Mann mit einem langen Bart, neben dem eine glänzende Rüstung lag. Außerdem war da noch ein Pferd. Und ein dicht mit Gras bewachsener Hügel, auf dem viele kleine Kaninchen saßen. Darunter war der Eingang zu einer kleinen Höhle zu sehen …
»Die Kaninchen«, murmelte Julia.
Jason zupfte leicht an dem Band. Sie hörten ein gedämpftes »Paff!«
»Und jetzt?«, fragte Jason.
Auf das erste »Paff!« folgte ein zweites, das von einem Knistern begleitet wurde.
Durch das Fenster sahen sie eine Kaskade glitzernder Lichter. Dann erhellte ein orangefarbener Blitz den Himmel.
»Oh nein!«, rief Julia.
Jason ließ die Schnur los. »Das sah ja aus wie …«
Die dritte Explosion war sehr laut. Diesmal stiegen weiße und goldene Funken auf.
»… ein Feuerwerk«, beendete Jason seinen Satz.
Die Zwillinge blieben wie erstarrt stehen, als mit einem Mal das Klirren von Waffen zu ihnen hereindrang, dicht gefolgt von einem scharfen Kommando.
»Sucht die Eindringlinge! Beeilt euch! Lasst sie nicht entkommen!«
Das warme Badewasser reichte Mr Covenant bis zum Kinn. Er hatte den Kopf an den Wannenrand gelehnt und betrachtete aufmerksam die Decke über ihm, als ob die Risse im Verputz die Zeichen einer antiken Schrift wären, die er zu entschlüsseln versuchte. Er fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr.
Nach der kalten Ruderpartie kam ihm die mit duftendem Schaum gefüllte Badewanne wie das Paradies vor. Und langsam verblasste die Erinnerung an die Begegnung mit dem Wal, den Anblick des reglos im Wasser treibenden Leuchtturmwärters und … Er öffnete die Augen. Jemand hatte geklopft.
»Bist du da drin?«, fragte seine Frau.
»Ich liege in der Wanne.«
Die Tür ging auf und Mr Covenant bereute es, nicht abgeschlossen zu haben.
Seine Frau hatte eine neue Frisur, die ein bisschen an eine Bananenstaude erinnerte.
»Das steht dir sehr gut«, sagte er in der Hoffnung, sich mit einem Kompliment vor irgendwelchen anstehenden Diskussionen retten zu können.
Mrs Covenant wirkte abwesend. »Fällt dir etwas auf?«
Mr Covenant runzelte die Stirn. »Dein Sonnenbrand?«
»Ich habe doch keinen Sonnenbrand! Hast du die Kinder gesehen?«
»Nein. Warum?«
»Unten sind sie nicht. Ich dachte, sie wären in ihre Zimmer gegangen, aber auch dort fehlt jede Spur von ihnen.« Es war ihr anzusehen, wie beunruhigt sie war. »Dort herrscht allerdings ein ziemliches Durcheinander. Und es kommt mir so vor, als hätte jemand die Bibliothek durchsucht.«
»Wer soll das denn gewesen sein?«
»Ich weiß es nicht. Das ist nur so ein Gefühl.« Mrs Covenant biss sich auf die Unterlippe.
»Gibt es noch etwas, was du mir sagen möchtest?«, hakte Mr Covenant nach.
»Da war auch so ein merkwürdiger Luftzug.«
»Luftzug?«
»Ja, genau.«
»Vielleicht haben sich die Kinder versteckt, um dir einen Streich zu spielen.«
»Zur Abendessenszeit?«
»Könnte es sein, dass sie auf dem Dachboden sind?« Mr Covenant hoffte, dass diese Unterhaltung bald zu Ende sein würde. Er wollte sich noch ein paar Minuten entspannen.
»Ich schaue schnell dort nach.« Mrs Covenant ging zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um. »Wenn du …«, sagte sie mit einem flehenden Blick.
»Ja, ich komme sofort und helfe dir«, seufzte er. Nachdem sich die Badezimmertür geschlossen hatte, verdrehte er die Augen. »Pause zu Ende!« In Pantoffeln und einem apfelgrünen Bademantel verließ er das Bad.
Es stimmt, dachte er. Ein eiskalter Luftzug strich um seine Beine. Er kam unter der Spiegeltür des Turmzimmers hervor.
»Daher weht also das geheimnisvolle Lüftchen!«, rief Mr Covenant, als er sah, dass eines der Fenster im Turmzimmer offen stand.
Er wollte es gerade schließen, als er wie verzaubert stehen blieb. Am Himmel waren dunkle Wolken aufgezogen, deren Ränder im Licht der untergehenden Sonne golden glänzten. Der Wind hatte aufgefrischt und trieb kleine, schaumgekrönte Wellen vor sich
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