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Ulysses Moore – Das Labyrinth der Schatten

Ulysses Moore – Das Labyrinth der Schatten

Titel: Ulysses Moore – Das Labyrinth der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierdomenico Baccalario
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nahm er das Gespräch an und sagte freundlich: »Ja, bitte?«
    »Ich-bedauere-Sie-stören-zu-müssen-Doktor-Voynichaber-die-Situation-ist-leider-folgende«, sprudelte Eco ohne Punkt und Komma hervor. »Mistress Bloom hat sich in ihrer Wohnung eingeschlossen und scheint sie nicht mehr verlassen zu wollen. Die Kollegen in London haben mir berichtet, dass Mister Bloom nicht von der Arbeit nach Hause zurückgekehrt ist. Und seit etlichen Stunden haben wir kein Lebenszeichen mehr von den Gebrüdern Schere erhalten. Um es kurz zusammenzufassen: Was sollen wir tun?«
    Malarius Voynich warf die Schlüssel in die Luft und fing sie wieder auf. Dann sah er auf das Meer hinaus, in dem soeben die Sonne eingetaucht war. Er überlegte einige Sekunden lang. Dann sagte er: »Absolut nichts.«
    »Wie haben Sie gerade gemeint, Chef?«
    »Sie haben mich schon verstanden. Wir tun einfach nichts. Ich bin mir inzwischen so gut wie sicher, dass diese Geschichte um Ulysses Moore ein Windei ist.«
    »Aber … und die Angelegenheit mit dem Fresko … und dem französischen Maler?«
    »Morice Moreau? Wir werden der Sache ganz in Ruhe auf den Grund gehen. Bewache Mistress Bloom noch diese Nacht. Morgen sehen wir weiter.«
    »Doktor Voynich, ich erlaube mir, Sie daran zu erinnern, dass …«
    »Ach, es ist mir vollkommen schnurzegal, woran du mich erinnern willst. Ich sage dir jetzt, was ich tun werde: Ich fahre nach Zennor, suche mir dort ein Hotel, schlafe eine Nacht darüber, schreibe morgen früh eine Seite meines Romans und entscheide dann, was ich tun werde. Meine Entscheidung wird davon abhängen, wie mir morgen nach dem Aufwachen zumute ist.«
    »D… Doktor Voynich?«, stotterte Eco. »Seit wann schreiben Sie denn Romane?«
    »Seit siebenundfünfzig Jahren«, antwortete Malarius Voynich. »Und früher oder später hätte ich es sowieso jemandem erzählen müssen.«

Kapitel 10
Der Windwurzelbaum
    Es war immer wieder aufs Neue ein seltsames Gefühl, sich wie ein Dieb ins eigene Haus schleichen zu müssen. Weil es schon so spät war und er von seiner Motorradfahrt immer noch Rückenschmerzen hatte, entschied Nestor sich dagegen, den Ahorn hinaufzuklettern, um von dessen Ästen aus aufs Dach zu springen und anschließend durch das Speicherfenster zu klettern. Stattdessen wählte er den bequemeren Geheimgang, der ins Wohnzimmer führte. Als er im Haus war, vergewisserte er sich nur rasch, dass Mr und Mrs Covenant in der Küche saßen, und schlich dann leise die Treppe hoch. In der Bibliothek fand er das gesuchte Buch im Dunkeln, ohne das Licht einschalten zu müssen.
    Wenige Minuten später hinkte er bereits im Garten auf sein Haus zu. Zwischendrin blieb er immer wieder stehen, um in dem Buch zu blättern. Der Mond schien so hell, dass er lesen konnte, was auf den zart elfenbeinfarbenen Seiten des Herbariums der niemals gepflanzten Gewächse stand. Die kunstvollen, von Hand eingefügten Zeichnungen stellten die unglaublichsten Blumen und Pflanzen dar: sprechende Rosen, Angst und Schrecken verbreitende Sträucher sowie Bäume, an deren Zweigen schnatternde Gänse wuchsen.
    Als er wieder im Gärtnerhaus war, fand er in dem Buch Platons Beschreibung der Lichtbäume sowie am Rand den Vermerk:
    Die Fantasie ist ein Baum. Sie besitzt die verbindenden Eigen schaften eines Baums und lebt zwischen Erde und Himmel. Die Fantasie lebt in der Erde und im Wind. (G. B.)
    Er wusste nicht, wer das hineingeschrieben hatte. Weil sich Julia und Tommaso gerade angeregt unterhielten, wollte er sie nicht stören. So blieb er in der Tür stehen und blätterte weiter, bis er auf den gesuchten Eintrag stieß:
    Windwurzelbaum
    Es gab ihn also doch.
    Die Illustration zeigte zwei Bäume, so wie auf Moreaus Fresko. Sie standen nebeneinander, und ihre Wurzeln waren miteinander durch einen Schwarm winziger Insekten verbunden, die von den Wurzeln des einen Baums zu denen des anderen unterwegs waren, und umgekehrt. Nestor las die Beschreibung:
    Einigen nordeuropäischen Mythen zufolge ernähren sich die Windwurzelbäume von den an ihnen vorbeiziehenden Ideen. Je stärker der Gedankenfluss ist, desto besser können sich der Baum und sein Zwilling entwickeln. Wir haben es hier stets mit Zwillingsbäumen zu tun, die ihr Leben lang miteinander verbunden sind. Der antike griechische Historiker Strabon schrieb, dass ein Baum stirbt, wenn sein Zwilling gefällt wird. Abgesehen davon sind die Windwurzelbäume sehr wider standsfähige Pflanzen mit einer ungeheuer langen Lebens dauer.

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